Im Bunker fühlten wir uns sicher

Erinne­­run­gen von Kurt Nörenberg an die im Bunker Andréezeile verbrachten Stunden des Bombenkriegs

Die Baumaßnahmen des Bunkerbaus in der Andréezeile in Zehlendorf schritten 1941 zügig voran und konnten noch im gleichen Jahr beendet werden. Es entstand ein Standard-Doppelbunker in den Ausmaßen von rund 20 mal 79 Metern. Jede Bunkerhälfte war mit einem Technikraum zur Frischluftumwälzung für 10 Luftschächte, einer Gasschleuse, zwei Waschräumen, zwei Toilettenanlagen und einem größeren Aufenthaltsraum ausgestattet.

Jede Hälfte verfügte über 36 Kabinen, die im Durchschnitt rd. 6 qm Bodenfläche hatten. In jedem der beiden Bunker waren rund 200 Betten untergebracht, die dreistöckig an einer Seiten- und der Stirnwand standen; also sechs Schlafplätze pro Kabine. Die Übernachtungskosten betrugen 1,- RM täglich. In den übrigen Kabinen standen Bänke für 15 bis 20 Personen. Eine Kabine nahe der Bunkertreppe war als Dienstraum mit Meldetechnik für den Bunkerwart ausgestattet. In den letzten Kriegsjahren übten Frau Weidig und Herr Naumann die Funktion der Bunkerwarte aus. Frau Weidig hatte praktisch einen 24-Stunden-Dienst, denn sie lebte in einer Wohnlaube unmittelbar hinter dem Bunker in der Eilertstraße. Im Bedarfsfall war sie jederzeit nach ein paar Schritten zur Stelle. Bunkerchef war der Leiter der Polizeiinspektion Zehlendorf, Herr Koch, genannt Papa Koch. Er führte gelegentlich Kontrollen durch und sorgte für die Reinigung und die Geschäftsbedürfnisse.

In Berlin wurde während des Zweiten Weltkriegs 421 mal Fliegeralarm ausgelöst. Der Luftkrieg begann am 2./26. August 1940 mit 22 Tonnen abgeworfener Bomben und steigerte sich gegen Kriegsende bis zu 310 Tonnen je Angriff. Die Statistik der Alliierten verzeichnet 363 Bombenangriffe auf Berlin, davon 46 Großangriffe mit mehr als tausend Bombern. Wie viele Berliner durch den Bombenkrieg den Tod gefunden haben, ist nie ganz genau festgestellt worden. Die amtlichen Nachweise des Obersten der Schutzpolizei, Schnell, geben als einzige verbürgte Information bis zum 27. April 1945 49.600 Luftkriegstote an. Über den Verbleib der Vermissten und die Anzahl der Verwundeten dagegen herrscht völlige Ungewissheit. Mithin sind rund 1,8% der Berliner Einwohner dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen. 30.000 Wohnhäuser wurden total zerstört, 28,5 Quadratkilometer der bebauten Stadtfläche präsentierten sich als reine Ruinenlandschaft.

Wir Bunkerinsassen hatten in den letzten Kriegsjahren einen relativ guten Überblick über das Geschehen außerhalb des Schutzraumes. Eine Helferin der Bunkerwartin lief vor und während der Fliegeralarme durch die Bunkergänge und rief den jeweiligen Standort der Bomberverbände und ggf. deren jeweilige Aktionen mündlich aus. Diese Informationen wurden auf zweierlei Wegen übermittelt. Die Polizei unterhielt ein von der Post unabhängiges halbautomatisches Fernsprechnetz, das wiederum mit Querverbindungen zu den Fernsprechsystemen der Feuerwehr, der Stadtverwaltung, des Luftgaukommandos III sowie des Standortkommandanten verbunden waren. An diesen Verband war, wie aus der einzig beim Planungsamt Zehlendorf vorhandenen Unterlage über den Bunker hervorgeht, ein Anschluss hergestellt worden. Außerdem vermittelte die Leitstelle der 1. Flakdivision präzise Angaben über die Angriffslage während der Alarmzeiten. Die von den alliierten Verbänden jeweils überflogenen Gebiete wurden detailliert bekanntgegeben. Die Luftlagemeldungen dieser von den Berlinern als Drahtfunk bezeichneten Durchsagen bedeuteten für uns auch deshalb eine besondere Hilfe, weil wir hier nicht nur den Standort der Bomberverbände, sondern auch die geschätzte Anzahl der Flugzeuge und die Bombertypen erfahren haben. Wir konnten so z.B. selbst entscheiden, ob wir den Bunker überhaupt aufsuchen sollten. Waren nur einige leichte Bomber oder Aufklärer vom Typ Moscito auf unser Gebiet im Anflug, blieben wir zu Hause und gingen bei Alarm in den häuslichen Luftschutzkeller. Anders zu betrachten war die Situation, wenn schwere Bomberverbände vom Baumuster Boeing Fortress, Librator oder Lancester im Raum Hannover / Braunschweig oder Stendal mit Ostkurs im Anflug auf die Reichshauptstadt waren. Ich nahm sodann regelmäßig mein Luftschutzgepäck auf, das aus einem Rucksack mit für die Jahreszeit entsprechender Wechselkleidung und einem kleinen Handkoffer mit persönlichen Papieren, Urkunden, Zeugnissen, einigen Fotos und ggf. auch ein Lieblingsbuch bestand. Mit dem Fahrrad radelte man ohne Hast aber mit dem gebotenem Tempo zur Andréezeile, stellte sein Fahrrad unangeschlossen an die Bunkerwand in der Eilertstraße und ging zusammen mit den nun aus allen Richtungen eintreffenden Menschen ohne Drängeleien geordnet die Bunkertreppe hinab, um in einer Bunkerkabine seinen Stammsitzplatz einzunehmen. Wenn dann nach einigen Minuten von der Helferin der Bunkerwartin z.B. der Standort in den Planquadraten der Luftlagekarte „Gustav-Gustav zwo und drei“ ausgerufen wurde, wussten wir, dass sich die Bomber über Zehlendorf und Lichterfelde befanden.

Im Bunker fühlten wir uns absolut sicher. Das lag einmal daran, dass während des gesamten Krieges kein Fall bekannt geworden war, wonach ein Bombenvolltreffer die in der Regel mehr als zwei Meter dicken Bunkerdecken durchschlagen hätte.

Aber auch psychologisch vermittelte der Bunker uns ein relativ hohes Sicherheitsgefühl, weil man so gut wie nichts von dem zeitweilig draußen herrschenden beträchtlichen Gefechtslärm hörte, der durch den Geschützdonner der von den zeitweilig um uns herum bis zu 6,5 km Entfernung stationierten schweren Flakbatterien hervorgerufen wurde. Diese Batterien waren in Nikolassee, am Ostpreußendamm, in Heinersdorf an der Lichterfelder Grenze, in Stahnsdorf und nur wenige hundert Meter vom Bunker entfernt auf dem Düppeler Feld stationiert. Es handelte sich zumeist um Großbatterien, die mit acht bis zwölf Geschützen vom Kaliber 8,8 cm über 10,5 cm bis 12,8 cm bestückt waren. Hinzu kamen mitunter noch einige 2,2-cm-Geschütze, die die Batterien vor Tiefangriffen schützen sollten. Das Vernichtungsfeuer gegen die anfliegenden Kampfverbände wurde zumeist in der Feuerform des Gruppenfeuers vorgenommen, d.h., alle Geschütze schossen gleichzeitig auf Kommando. Die Schnelligkeit des Gruppenfeuers betrug je nach Ausbildungsstand der Geschützbedienungen etwa 15 Schuss in der Minute. Bei Sperrfeuer waren ohne Kommandounterbrechung bis zu 20 Schuss in der Minute möglich. Geht man von einer Überflugzeit einer Bomberwelle über den Bereich der vorgenannten Flakzone von vier Munten aus, dann sind unter Berücksichtigung des Zielwechsels nach dem Wechselpunkt alleine aus diesen ca. 50 Rohren in 3,5 Minuten mehr als 2.600 Granaten abgefeuert worden. Der dadurch verursachte Granatsplitterregen (eine 8,8-cm-Granate zerriss in etwa 300 Sprengstücke), die Gefahr des Herabfallens von Blindgängern sowie der infernalische Lärm des Abschussdröhnens war für uns schon Grund genug, den Bunker aufzusuchen, um von alledem fast nichts mitzubekommen. Lediglich bei der Detonation von Bomben im Umkreis von zwei- bis dreitausend Metern spürte man auch im Bunker das Erzittern und Schwanken des Erdreichs. Hinzu kam dabei auch zumeist das Flackern oder totale Erlöschen der elektrischen Beleuchtung. An den Gesprächen der Erwachsenen, die häufig mit der Floskel begannen, „wenn wir nächste Woche noch leben, dann…“ beteiligten wir Burschen uns kaum. Wenn die Bomberwellen irgendwo über Berlin von uns unbemerkt ihre tödliche Fracht abluden, holten wir die Würfel oder die Spielkarten hervor und beschäftigten uns mit „66“ oder „17 und 4“. In unserer Bunkerkabine war in den letzten Kriegsmonaten häufig ein kriegsversehrter Soldat aus der Nachbarschaft zugegen. Ihm fehlte ein Arm bis zur Schulter. Da seit Monaten keiner von uns mehr zur Schule gehen konnte, machte er permanent mit uns Grammatik oder hörte englische oder lateinische Vokabeln an Hand von ihm mitgebrachter Schulbücher ab. Am unangenehmsten waren die Nachtalarme, weil man da zumeist erst beim Sirenengeheul (Voralarm) aus dem Bett gerissen wurde. Wir mussten dann in völliger Dunkelheit und in höchster Eile in die präzise und in einer bestimmten Ordnung neben dem Bett abgelegten Kleidungsstücke und Schuhe schlüpfen, um rechtzeitig bei Vollalarm auf dem Wege zum Bunker zu sein. bei Neumond, auf dem Fahrrad, ohne die Hand vor Augen sehen zu können, war das ein gefährliches Unterfangen. Stürze, insbesondere von älteren Radlern, waren keine Seltenheit.

Eine abschließende zweckentsprechende Bedeutung bekam der Bunker in den letzten Apriltagen des Jahres 1945. Als die Rote Armee am 16. April 1945 die Oder überschritten hatte, erfuhren wir durch Mund zu Mund-Nachrichten, dass sich die Russen auch von Süden her Berlin näherten. Ich bin deshalb am 19. April zum Bunker gegangen, um, wie man so sagt, die „Lage zu peilen“. Vor den beiden mittleren Eingängen hatte jemand auf einem Stuhl einen Volksempfänger gestellt, der mit einer Autobatterie betrieben wurde. Goebbels hielt gerade eine Rede, der nur einige Personen zuhörten. Im Inneren des Bunkers waren noch Plätze frei. Es herrschte eine angespannte Ruhe. Als wir dann am nächsten oder übernächsten Tag erfuhren, dass sich die Russen von Baruth her Teltow näherten, Panzerspitzen schon südlich von Ruhlsdorf gesichtet worden seien, entschlossen wir uns, in den Bunker überzusiedeln. Wir erkannten, dass es um uns herum zu Kampfhandlungen kommen musste, weil deutsches Militär in der Andréezeile, der Rendtorff- und Ladiusstraße verteilt wurde. An der Schmiede Teltower Damm Ecke Kleinmachnower Weg sowie neben dem Haus Teltower Damm 256 waren Geschütze in Stellung gebracht worden. Im Laufe der Nacht trafen mehr und mehr Menschen im Bunker ein. Ein atemloser, verwundeter Soldat erzählte, er habe sich eben durch das von den Russen besetzte Teltow durchgeschlagen und sei gerade rechtzeitig über die Brücke gekommen, die hinter ihm „in die Luft gejagt“ worden wäre. Es war zeitweilig stockdunkel, in einigen Kabinen brannten Kerzen, es wurde stickig und es stank. In der Morgendämmerung bin ich gelegentlich ins Freie gegangen, um etwas frische Luft zu schnappen. Sehr erholsam war das nicht, weil in Abständen von mehreren Minuten die deutsche Artillerie, die, auf Eisenbahnwaggons montiert, von der Stammbahn oder Wannseebahn her flaches Störfeuer in Richtung Kleinmachnow schoss. Es war der 24. April zwischen drei und vier Uhr morgens. Die Enge in den Bunkerkammern wurde bedrückend. Wir konnten kaum noch unsere Beine ausstrecken. Draußen hatte sich die Lage insofern verändert, als kaum noch Schießereien zu hören waren. Wir fragten uns, ob unter diesen Bedingungen das Verbleiben die richtige Entscheidung sein und kamen überein, wieder in unseren häuslichen Luftschutzkeller zu wechseln. Hier durchlebten wir dann das später einsetzende Trommelfeuer der Russen in den Morgenstunden des 24. April 1945. Wochen später wurde uns berichtet, bei der Übernahme des Bunkers durch die Russen hätten sich auch hier die seinerzeit üblichen Vergewaltigungsszenen zugetragen.

Kurt Nörenberg

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4 Kommentare

  1. Ein ganz toller Bericht, vielen Dank für diese Einblicke in eine Zeit, die ich (und wohl die meisten) nicht erleben mußten.
    Mich würde auch interessieren, wie es nach der Kapitulation weiter ging. War denn ganz Berlin zuerst von den Russen besetzt bzw. wann kamen die anderen Alliierten in die Stadt?

    Vergewaltigungen sind heute leider auch noch an der Tagesordnung bei Kriegen, egal wo und egal von wem. Daß die Russen bzw. die Diktatur unter Stalin gut verglichen werden kann mit der Nazi-Diktatur in Deutschland, wissen inzwischen viele, nur hat sich diese Sichtweise noch nicht in allen Teilen der ehemaligen Sowjetländern durchgesetzt. Eine ähnliche Geschichtsverklärung trägt aber z.B. auch in Italien ihren Teil dazu bei, daß dort inzwischen eine sog. „Bürgerwehr“ eingesetzt wird, die Uniformen im SA-Stil trägt. Wehret den Anfängen!

  2. Interessanter Zeitzeugenbericht. In der Fichtestraße (Kreuzberg) kann man demnächst, erstmalig am Tag des offenen Denkmals, die räumlichen Bedingungen anschaulich erfahren.
    Aber, nur für ca. 3 % der Berliner gab es deartige Schutzplätze. Die Bewohner des Neanderviertels mussten das am 3./4. Februar bitter erfahren.

  3. Ein horror, sowas erleben zu müssen. Danke für diesen Bericht.

    Im Koblenz gibt es heute noch zwei Bunker, überirdisch, sie werden heute als Proberäume für Bands genutzt, verwaltet durch unsere Musiker-Initiative. Ich fand es immer beklemmend mich darin aufzuhalten, jedoch kann ich mir den schutz den diese darstellten dazumal wenn rundum der Krieg und die Bomben toben vorstellen, soweit mir das möglich ist. Es erscheint mir als Gnade, so fern von Kriegsschauplätzen leben zu können.

    Ansonsten gab es auch viele Luftschutzkeller. Mein Vater ist 1940 geboren, und er hat nie vergessen, er brach da als junger Mann konsequent bis zum ende den Kontakt ab, wie, als der Alarm kam und man grade auf dem Weg zu einem solchen Keller war, es schon losging mit den Bomben.
    Seine Mutter rannte los und ließ ihn stehen. Eine Nachbarin sammelte ihn ein und nahm ihn dann mit.

    Ich stimme Trixi zu das Vergewaltigungen auch in neuerer Zeit zum Krieg gehören.
    Mag sein das in solchen Extremsituationen sich in so einigen das Tier im Mensch entlädt.

    Ein Film, der auch dieses Thema inne hat, auf ziemlich persönlicher ebene, ist gerade in den Kinos angelaufen, es geht um den Kosovo.

    http://sturm-der-film.de/
    http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,647689,00.html

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