Die alte Neue Friedrichstraße

Wenn ich die Neue Friedrich­straße, die nicht gepflastert ist, weil es sie nicht mehr gibt, von der Burgstraße aus weiter gehen will, muss ich zwischen den Hochhäusern an der Spandauer Straße hindurch. Sie sind von Röro-Gerüstbau mit blau geklebten Planen eingehüllt wie von einem bürokratischen Christo.
Rechter Hand liegt das Gebäude der Wirtschafts-Wissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität, gebaut als Handels-Hochschule, 1906 durch eine private Initiative, als der Staat noch nicht glaubte, dass Kaufleute akademische Bildung haben sollten. Damals, in privater Hand, war das eine hochmoderne Schule, heute, in der Hand des Berliner Senats, sieht’s hier nicht aus wie in einer zentralen Ausbildungs-Stätte eines aufstrebenden Landes.
Ich trinke in der Behelfsmensa einen Kaffee und füge für einen Augenblick die Melancholie, die mir mein eigenes Alter vermittelt, der Melancholie hinzu, die die Geschichte des Ortes als grauen Staub auf den falschen Marmor legt. (Den Staub erzeugen in Wirklichkeit Handwerker, die zu lauter Zeitgeistmusik aus ihren Radios die Gegenwart erneuern. Als ich mich von der Maurermusik entferne, zurück in die imaginäre Neue Friedrichstraße, verformen meine Einbildungen den Technorock für eine kurze Weile zu einem schwebenden Orgelklang.)
Hinter den Hochhäusern an der Spandauer Straße finde ich ein Haus, das wirklich noch an der Neuen Friedrichstraße gestanden hat. „Hier baut Heitkamp schlüsselfertig“, die Baufirma verspricht, aus dem Altbau ein ,“Bistroant“ zu machen. Das Wort ist mir neu, ich habe es noch nie gehört; es wird nicht in meinen Sprachschatz vordringen, es geht mir zu schwer über die Zunge.
Auch gegenüber hat ein Haus überlebt, an dem man die Fluchtlinie der Neuen Friedrichstraße noch ablesen kann: das Bistro Rosenstraße; daneben RTL: Mit fünf Schüsseln auf dem Dach fangen sie aus dem Himmel die Nachrichten herunter, die sie unten zu „Kommunikation“ verarbeiten. Die Kommunikations-Werkstatt steht Schulter an Schulter mit einem Gebäude, das aus der deutschen Geschichte in die Berliner Gegenwart hineinragt, viel direkter als man ihm zugestehen will.
Mitte 1933 lebten in Berlin 161.000 jüdische Bürger, 1939 waren es noch 75.000. Mit dieser Zahl beendet die mit Senats-Unterstützung zur 750-Jahr-Feier der Stadt erschienene „Geschichte Berlins“ ihre statistische Revue und schweigt über das Folgende.
Nun begannen die Züge zu rollen. Am 11. Juli 1942 verließ der erste Reichsbahnzug mit 210 Berliner Jüdinnen und Juden den Bahnhof Grunewald direkt ins Mordlager Auschwitz. Der letzte fuhr am 31. März 1945. Viele Berliner haben diesen Morden Beihilfe geleistet, widerstanden haben wenige. Die große Volksgemeinschaft der Täter hat hernach schnell die Entschuldigung verbreitet: Widerstand sei unmöglich und zwecklos gewesen.
Der Platz, an dem ich jetzt ein wenig abseits von der verschwundenen Neuen Friedrichstraße in der Rosenstraße stehe, versendet eine andere Botschaft. Wir müssen sie nicht aus den fernen Kommunikations-Himmeln herabholen. Sie steigt aus der gequälten Erde auf und sinkt von den düsteren Mauern herab.
1943 haben hier Berliner Frauen Tag und Nacht vor dem Haus gestanden, in dem Berliner Polizei ihre jüdischen Männer zum Abtransport „gesammelt“ hatte. Dieser Widerstand jedenfalls war möglich gewesen, der Protest war erfolgreich, fast alle Verhafteten haben überlebt. Gerade deshalb vergäße man das Datum wohl gern.
„Die Deutschen wollen und können mit dem Holocaust nicht umgehen, sie wollen von ihrer Schuld nichts wissen, niemand will daran erinnert werden“, sagt die Bildhauerin Ingeborg Hunzinger. Von ihr stammt das Denkmal, das dem denkmalswürdigen Haus gegenüber auf der kleinen Wiese steht; vor dem gelben Bauzaun sieht es aus wie Baumaterial, auf das man nicht mehr so großen Wert legt.
Das Haus der versuchten Untat wirkt auf mich, als befände es sich nun selbst im Strafvollzug. 1997, hat man vor Jahresfrist gehört (von dem Ex-Senator Nagel, der gerade das Adlon so wieder aufbaut, wie es auch in den bösesten Zeiten ausgesehen hat), 1997 soll der Platz „würdiger“ gestaltet werden. Es geht gar nicht um Würde. Es geht um Lehre und Lernen. Berlin hat zur Zeit wenig Zeit für die Lehr- und Lernstunden, die im Curriculum seiner Geschichte reichlich ausgewiesen sind. Erst brauchen wir viele neue Bistroants und Büros, dann müssen wir die vielen neuen Büros vermieten, dann werden alle tot sein, die noch an ihr eigenes Leben denken müssen, wenn der historische Untergrund vermessen wird, auf dem diese neue Metropole wachsen soll. Die meisten gehen jetzt schon über die deutsche Geschichte, ohne sie unter dem Beton der Gegenwart noch zu spüren.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

print

2 Kommentare

  1. „Von ihr stammt das Denkmal, das dem denkmalswürdigen Haus gegenüber auf der kleinen Wiese steht; vor dem gelben Bauzaun sieht es aus wie Baumaterial, auf das man nicht mehr so großen Wert legt.“

    jetzt bin ich etwas verwirrt. da steht
    doch ein bereits seit jahren renoviertes
    haus mit büros und einem hostel?

    oder meinst du das hotel an der heidereuter gasse?

    gruss matze

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*