An der Bernauer Straße

Friedhofseingang Ackerstraße

Grenz­­gänge V

Bernauer Straße: dieser Name löst bei mir immer dasselbe Bild aus: eine alte Frau, in einem Fenster, sie traut sich nicht loszulassen, um in das Tuch der Feuerwehr zu fallen. Es ist ein undeutliches Bild. Es bildet nichts ab, was ich in Wirklichkeit gesehen habe. Es ist mir mitgeteilt worden. 1961 hatte ich noch keinen Fernseher. Also habe ich das Bild, das meine Erinnerung beschäftigt, vielleicht in der Wochenschau gesehen oder in der Zeitung. Vielleicht habe ich es verfertigt aus anderen Bildern, die ich anderswo über andere Plätze gesehen habe. Wo immer es herkam in meine Erinnerung: damals war ich noch nie in der Bernauer Straße gewesen, später häufiger, um die Veränderungen zu besichtigen, die die Mauer mit der Straße bewirkte. Ich sage: die Mauer. Ich gebe mir Mühe zu vergessen, dass die Mauer kein handelndes Wesen war. Wer weiß, dass sie da war, der merkt, dass sie hier war.

Der Blick die Strelitzer Straße südwärts, also abwärts, an der Kreuzung mit der Rheinsberger, ist ein ruhigerer Blick als der Blick nach Norden. Nach Süden fällt die Strelitzer Straße sanft ab, im Hintergrund liegt Schinkels Elisabethkirche und der Fernsehturm, wirklich eine städtebauliche Glanztat, er befestigt die Stadt am Himmel, deshalb (sagen manche) zeigt er im Sonnenglanz ein Kreuz, aber der Himmel gehört nicht den Christen allein.
Der Blick nach Norden zeigt Wedding auf der Höhe, bald auch die Brache: das abfallende Rasenstück, das auf der Mitte-Seite der Bernauer liegt und von dem das Bundesvermögensamt behauptet, dass es ein Privatgrundstück sei. „Betreten verboten“ steht auf dem Staatsschild. Der Staat kann in dieser Gegend nicht aufhören, zu verbieten, Befehle zu erteilen und Unwahrheiten zu sagen. Aber die Menschen halten sich nicht an das Verbot. Das Bundes-Vermögensamt hat uns nichts zu sagen. Auch ich gehe also über diesen weiten Rasen, der auf der Karte von Mitte als eine weiße Fläche eingetragen ist, als sei’s das Innere des Kongos, unerforschtes Geheimnis, Herz der Finsternis oder Schnee.
Der Löwenzahn blüht gelb, es gibt schon wieder Zäune hier, sie machen Wege unmöglich, die lange möglich waren; der Friedhof wächst zur Straße herauf, er will Land für die Toten; gegenüber der betonigen Versöhnungskirche stehen zweimal umzäunt die drei Glocken, die sich durch keine lesbare Inschrift Mühe geben an etwas zu erinnern, was nicht mehr da ist. Die Glocken sind auch tot. Ein scharfer Wind weht Sand auf.

Die Ackerstraße hat Schwierigkeiten, sich selbst zu finden, auf der Weddinger Seite gibt sie sich als Sackgasse, auf der Mitte-Seite wird vor ihr gewarnt: „Achtung Gehwegschäden“, es ist das größte der vielen Schilder dieses Inhalts in dieser Gegend, in der sich einige Jahrzehnte die Weltgeschichte aufgehalten hat und aus der sie nun fort ist unter Hinterlassung einiger ihrer Instrumente: ein paar Betonklötze, Mauerreste, zwischen Straße und Friedhof, im Streit, liest man gerade heute; eine Zeitung schreibt, wer diese Mauerstücke nicht fühlt, der sollte nichts zu sagen haben in dieser Stadt. Ich habe nichts zu sagen, ich bin so frei: Die Mauerreste sind kein Denkmal. Man soll keinen Versuch machen, Wunden immer wieder aufzureißen, wenn man keinen Versuch machen will, die innere Wundheit zu heilen. Wir sollten uns nicht gestatten, unsere Probleme in den Denkmalschutz umzuleiten.

Dieses Straßenstück der Ackerstraße zwischen dem Elisabeth-Friedhof mit der niedrigeren Mauer links und dem Sophienkirchhof mit der höheren Mauer rechts, ist von eigener Schönheit, es führt mitten durch Melancholien; ich zeichne das gußeiserne Eingangstor zum Elisabethkirchhof mit den beiden vergoldeten Sonnen. „Arbeiten Sie hier auf dem Friedhof?“ fragt mich die alte Frau von eben; so sah die Frau aus, denke ich, die im Fenster der Bernauer Straße … „Nee“, sage ich.
„Ich meine nur: weil Sie so viel schreiben“.
„Mein‘ Sie, wer aufm Friedhof arbeitet, der muss viel schreim?“
„Jaja, meistens is det doch so. Oder?“
Eine Beerdigungsgesellschaft entfernt sich langsam von einer hinteren Grabstelle. „Guck mal“, sagt die Alte vorne auf der Bank zu ihrer Nachbarin: „Guck mal, nu heuln se!“
Gegenüber der Anklamer Straße entleert der Wind die Müllcontainer an der Friedhofsmauer. Das Haus Anklamer Straße 58 hat einen neuen Dachausbau, aus dessen westlichen Fenstern man einen schönen Friedhofsblick haben muss.
Die Ecke Acker-/Anklamer Straße kommt mir sehr typisch vor für Berlin wie es jetzt ist, wohl nicht lange. Die Friedhofsallee mit fernem Blick auf die drei Brandmauern, die an das unbebaute Eckgrundstück heran drängen, scheinen dichte Geschichten zurückzuhalten, das vergangene Leben. „Wir haben das Zeitalter der Sklavenhalter niemals verlassen“ ist angesprayt.
Die Anklamer Straße setzt sich über den Friedhof fort, an Kollo, Lortzing, Bach, Bechstein vorüber, den Gräbern der Musiker, Musikerenkel, Instrumentenbauer; die Allee vom Versöhnungskreuz aufwärts, westwärts lässt die Bernauer in einer herzergreifenden Ferne liegen: Lasst uns alles vergessen.
Die Bergstraße ist verriegelt, das Grünflächenamt hat sie zugeschlossen, durch Gebäude und Höfe der 3. Grundschule könnte ich die Gartenstraße erreichen.
An der Ecke Invalidenstraße wird hinter einer Absperrung gerade ein Richtfest gefeiert, der Redner bedauert, dass Diepgen nicht da ist, den Bürgermeister von Mitte begrüßt er gar nicht, aber ausführlich die Niederlassungsleiter der zuständigen Bank, die sind wichtiger, der Kob sieht mich schreiben draußen am Absperrzaun, er kommt langsam auf mich zu, die privaten Wachmänner mustern mich und verschränken die Arme vor der Brust.
Golden zeigt sich mir oben der „Nordbahnhof“ an, dort verweile ich einen Augenblick an der Stelle, an der die Weddinger Grenze spitz nach Mitte hineinspringt. Ich bin froh, daß es nur die Weddinger Grenze ist. „Jugendliche und Gesellschaft gehen aufeinander zu“ steht unten am Bahnhofsperron an zulässigen Spraybildern.
Als der S-Bahnzug mich unter der Stadt fortzieht, denke ich wieder an die Alte, die nicht wusste, ob sie sich von der einen Gesellschaft in die andere fallen lassen sollte.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Axel Mauruszat, CC BY 2.0

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