Gartenstadt Atlantic

Mitten im eher desolaten Wedding liegt die zwischen 1925 und 1928 geplante und erbaute Gartenstadt Atlantic. Im überbevölkerten Berlin, das durch teils katastrophale Lebensbedingungen für die Arbeiterschaft geprägt war, sollte diese „Gartenstadt“ mit ihren 49 Häusern bezahlbaren und doch guten Wohnraum schaffen. Der jüdische Architekt Rudolf Fränkel hatte sich für diese moderne Reihenhaussiedlung am lebensreformerischen Modell der Gartenstadt orientiert, das der Brite Ebenezer Howard formuliert hatte.

Der Ausblick ins Grüne, Licht, Luft und Sonne sollten das Wohnen in diesen Häusern mitten im damals noch „roten Wedding“ prägen, in einem Kiez, in dem Hertha BSC zuhause war. Dabei lag die Siedlung in direkter Nachbarschaft eines städtischen Vergnügungszentrums, dem Kino Lichtburg. Der Komplex wurde ganz im Stil der Zwanziger durch einen futuristisch anmutenden, dynamisch gen Himmel strebenden Turm dominiert, aus dem Scheinwerfer in die Nacht strahlten. Mit 2.000 Sitzplätzen, Restaurants, Bars und Tanzsälen war die Lichtburg einer der wichtigsten Schauplätze Berliner Volkskultur.
Ihr Pächter war Karl Wolffsohn, Herausgeber der Zeitschrift „Lichtbildbühne“. Er war ein Liebhaber des Kinos, das er als Ort verstand, an dem auch die Masse der wenig wohlhabenden Berliner am kulturellen Leben teilnehmen kann. Weil ihm 1936 der Pachtvertrag gekündigt werden sollte, weil er Jude war, erwarb er mit Hilfe eines amerikanischen Investoren die Gartenstadt Atlantic AG, der die Lichtburg gehörte.

Die Nazis entdeckten das Geschäft jedoch bald und zwangen den Unternehmer, der „Arisierung“ der AG zuzustimmen. Nach dem Krieg musste der nach Israel ausgewanderte Wolffsohn die Gartenstadt gegen den Widerstand einer Mafia aus Besatzungsoffizieren, städtischen Bürokraten, alten Nazis und einem Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde in einem langwierigen juristischen Prozess wieder erkämpfen.

Von der einstigen Anziehungskraft der Lichtburg war nach dem Krieg nur noch der Mythos geblieben. Mit der deutschen Teilung war aus der einst zentralen Lage am Gesundbrunnen ein Ort im toten Winkel der Mauer geworden. Die Lichtburg, deren juristisch nicht anzufechtende Arisierung nie rückgängig gemacht wurde, wurde 1969 abgerissen, die Gartenstadt hingegen blieb bestehen.
Wolffsohns Sohn Max gelang es zwar, deren Bestand zu sichern, war schließlich aber aufgrund fortgeschrittenen Alters nicht mehr in der Lage, die dringend notwendige Modernisierung des Komplexes voranzutreiben. Vom Ideal des Reformprojekts war Mitte der Neunziger, als die jetzigen Eigentümer die unter Denkmalschutz stehende Siedlung am Gesundbrunnen übernahmen, wenig übrig geblieben. Stattdessen sprach man nun von „Verslumungstendenzen“, die auch das ganze umliegende Viertel kennzeichneten.

Die neuen Eigentümer entschieden sich dennoch gegen den Rat der Finanzexperten, die 500 Wohnungen umfassende Anlage möglichst umgehend zu verkaufen und begannen stattdessen mit der Sanierung und Modernisierung. Schon aufgrund der Größe des Komplexes mussten die üblichen Kompromisse mit den Behörden geschlossen werden, um die Balance zwischen den Anforderungen des Denkmalschutzes und den Notwendigkeiten der Finanzierbarkeit halten zu können.
Im Oktober 2005 wurde die Sanierung abgeschlossen und die Gartenstadt erstrahlt in altem Glanz. Während sich die Farbgebung der Fassaden am ursprünglichen Farbkonzept orientiert, werden die Wohnungen selbst dann dem aktuellen Standard entsprechen.

Um den ursprünglichen Charakter der Anlage beispielhaft auch im teuren Detail wiederherzustellen, wurde eines der Häuser wieder in einen Zustand versetzt, der in wesentlichen Merkmalen dem ursprünglichen entspricht. So wurden die Fenster denkmalgerecht erneuert und ein so genannter Madenputz angebracht, der durch Beibringung von Quartzelementen eine lebendige Fassade schafft: Qualität und Stärke des Lichteinfalls verändern ihre Anmutung stetig.
Doch die Sanierung der Siedlung ist nicht nur wegen ihrer architekturhistorischen Relevanz bedeutsam. Denn aufwändige Modernisierungen in urbanen Zentren finden üblicherweise im Kontext einer Entwicklung statt, in der aus einer schlechten eine bessere Gegend wird, wodurch die dort lebenden „sozial Schwachen“ gezwungen werden, in andere, arme Bezirke umzuziehen. Im modernisierten Altbau wohnt meist die so genannte Neue Mitte.
Die behutsame Sanierung der Gartenstadt hatte hingegen zum Ziel, die Belange der Bewohner zu respektieren. Trotz zusätzlicher Kosten wurde während der Modernisierung eine große Zahl von Umsetzwohnungen vorgehalten, um den dort wohnenden Mietern den Wiedereinzug in die nun modernisierten Wohnungen zu günstigen Preisen zu ermöglichen. Während der Arbeiten am ersten Bauabschnitt überwog für manche Mieter dennoch die Skepsis – sie zogen ganz aus. Am Ende blieben dennoch 80 Prozent der ursprünglichen Bestandsmieter dieser Häuser in der Gartenstadt, in den Wohnungen des zweiten Bauabschnitts beträgt die Quote gar 99 Prozent.

Das ist ein gelungenes Beispiel für eine denkmalgerechte Sanierung und Modernisierung in einem Umfeld, das kaum zu den innerstädtischen Trendvierteln zu zählen ist, sondern von Armut und beginnender Desintegration gekennzeichnet ist. Die in altem Glanz erstrahlende Gartenstadt steht daher für mehr als den Erhalt eines Denkmals. Sie trägt dazu bei, die angesichts leerer öffentlicher Kassen gern bemühte, aber meist ebenso leere Formel vom bürgerschaftlichen Engagement mit Inhalt zu füllen.
Die Eigentümer verzichten nicht nur zugunsten dieser behutsamen Sanierung für viele Jahre auf Rendite: Die von ihnen darüber hinaus ins Leben gerufene Lichtburg-Stiftung soll als deutsch-türkisch-jüdisches Integrationsprojekt interkulturelle Arbeit im Kiez leisten. Im eigens eingerichteten Lichtburg-Forum organisiert die Stiftung ein Kulturprogramm, das sich in erster Linie an die Bewohner des Viertels richtet.

Die ursprüngliche reformerische Idee, moderne, aber bezahlbare Wohnungen für Arbeiter zu schaffen, so die Überlegung der Initiatoren, sei der aktuellen Aufgabe gewichen, Immigranten und ältere Menschen zu integrieren. Das sind eben jene Menschen, die nun weiterhin in den Häusern der Gartenstadt leben: Die deutschen Mieter der Siedlung stellen gut zwei Drittel der Bewohner, 65 Prozent von ihnen sind älter als 50. Unter den ausländischen Mietern ist der Anteil der Türken mit rund 20 Prozent am höchsten.

Der Neubau, der in den 80er Jahren gegenüber des Bahnhofs Gesundbrunnen an der Stelle der Lichtburg gebaut wurde, lehnt sich optisch leicht an das Erscheinungsbild der Gartenstadt und des Kinokomplexes an.

Foto: Fridolin freudenfett (Peter Kuley)
CC BY-SA 3.0 DE

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