Zurück nach Wedding

Vor 30 Jahren war ich Amtsrichter am Wedding. Ich kam aus Lübeck. Ich musste erst lernen, dass man „am Wedding“ sagt, nicht „in Wedding“, denn „Wedding“ ist etwas, was wie ein hoher Berg von den Menschen immer ein Stück hinweg rückt, so dass sie nur an seinem Fuße wohnen.
Alles war mir fremd. Was mich nach Wedding, ins Amtsgericht an der Pankstraße, am Brunnenplatz gebracht hatte, war ein Fall aus dem Lehrbuch. Ich hatte gedacht: Das gibt es nur in Lehrbüchern, aber nicht in der Wirklichkeit, dass ein Amtsrichter in Geisteskrankheit verfällt, und alle seine Urteile sind nichtig. Aber meinem Vorgänger war es passiert. Später genas er. So wurde ich als Ersatzmann Zivilprozess-Richter am Wedding.

Fast alle Zeit, die mir mein übervolles Dezernat ließ, verbrachte ich auf Weddinger Straßen und in Weddinger Kneipen, um das Leben von Wedding zu erlernen. Es fiel mir schwer, die Ackerstraße, die Bergstraße, die Gartenstraße zu Ende zu denken, über die Mauer hinaus. Kaum war die Mauer durchlässig geworden, bin ich die Ackerstraße in umgekehrter Richtung gegangen, von Mitte nach Wedding, und habe die Weddinger Erinnerungen aus den 60er Jahren wieder gesucht.
Das habe ich auch heute getan: vom Nordbahnhof die Gartenstraße aufwärts. Oben links weiß ich das Grab Theodor Fontanes, nicht in Wedding, in Mitte, an der Grenze: an der Grenze seiner Welt; Wedding ist kein Ort in den Romanen des größten Berliner, sagen wir ruhig: deutschen Romanciers. In den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ belegt er den Wedding mit der Formel: „prosaische Dürftigkeit“. Das hätte er, als er starb, schon anders sehen müssen.
Am Ende des Jahrhunderts passten andere Adjektive bereits besser. Da war der Wedding ein Bereich dramatischer Zuspitzungen: Die Folgen von Kapitalismus pur waren hier aufregend sichtbar. Wie lange hat es gedauert, bis Lehren daraus gezogen wurden? Und ist die Lehre für immer gelernt?

Ich komme an der Ernst-Reuter-Siedlung vorüber. Damals in meiner Weddinger Wanderzeit lag sie ganz am Rande, jetzt liegt sie mitten drin. Sie dokumentiert die Stadterneuerungs-Gedanken, die im Westen der 50-er, 60-er Jahre auflagen und die den Wedding so verwandelt haben, dass er heute wenig vergleichbar ist mit Mitte, Prenzlauer Berg, wo das 19. Jahrhundert des Spätkapitalismus länger als ein halbes Jahrhundert langsam zugrunde gegangen ist, während wir im Westen dachten: „Fort mit den dunkeln Quartieren, freundliche Wohnlandschaften für die Arbeiterschaft!“ Ein hochherziger städtebaulicher Gedanke, auch wenn ihm oft ernüchternde Taten gefolgt sind.
Ich ziehe im Geiste den Hut vor den Politikern, die diese Gedanken vertraten, vor Ernst Reuter vor allem, auch vor den Architekten, die zu ihrer Verwirklichung taten, was sie konnten: Felix Hinsen, Fritz Eggeling; auch das „Entwurfsbüro der DeGeWo“ war dabei bei der Erbauung der Ernst-Reuter-Siedlung über dem alten „Thomashof“ der Hinterhöfe und Zilleschen Lebenswelten.

Da muss man nicht sagen – wie ein Professor aus Darmstadt – wir (damit meint er im Vergleich zum Osten den Westen) haben beim Wiederaufbau die Substanz der Städte kaputtgemacht, während sie dort nur mit langsamer Freundlichkeit verfielen.
Ich habe Gicht im linken Fuß. Mein erster Wedding-Spaziergang neuer Zeitrechnung ist also gar kein Spaziergang. Ich sitze im Auto, ich lasse mich fahren. Ich weiß, dass der Höhepunkt meines ersten neuen Wedding-Besuchs das Amtsgericht sein wird. Höffis neue Möbelwelt, die Moderne oder schon die Postmoderne im Rücken, blicke ich über Pankstraße und Brunnenplatz auf das Amtsgericht.
Der sakral-feierliche Charakter der Fassade ist mir damals in seiner Komik nicht aufgefallen. Das ist Theater-Architektur, Verdeckungs- und Verschleierungs-Architektur: Es ist eben keine Kirche, sondern ein Gericht.
Da drinnen ist es niemals heilig zugegangen. Da beruhigt es mich beinahe, dass ich Höffi im Rücken habe; in seiner architektonischen Kundenbezogenheit sagt mir dieses Gebäude des Kommerzes: Die Welt ist weitergegangen, den Menschen geht es besser als damals, aus den Ausgebeuteten sind Kunden geworden. Passen wir auf, dass sie es bleiben und nicht über Nacht wieder Staatsgebärden, wie sie das Amtsgericht immer noch ausführt, das Verhältnis der Herrschenden und der Beherrschten charakterisieren.
Deshalb gefällt es mir so, dass den Architekten des nördlichen Gerichts-Anbaus nicht gelungen ist, was sie sich vielleicht dachten. Der Anbau hat eher etwas Arabisch-Maurisches als etwas Gotisch-Renaissancehaftes, in dem sein Mutterhaus dahin dunkelt.

Wir biegen schnell um zum Nettelbeckplatz. In den 60-er Jahren war er mehr Platz als heute. Er zeigt, dass die spätkapitalistische Düsternis des Wedding längst zu Ende ist. Nun sind wir in der Müllerstraße. Das ist eine der brauchbarsten Einkaufsstraßen Berlins. Das ist keine Übertreibung.
Keiner, der den Wedding früher gesehen hat und keiner, der ihn nicht mit Schablonen dekorieren will, würde sagen: „Wedding – der Hinterhof Berlins“, wie jüngst die Autoren eines Berlin-Buches des Rowohlt Verlags, das behauptet, Berlin „im Griff“ zu haben. Sie sind nicht in den 60-er Jahren hier gewesen, als im Reichstag ein Bundespräsident gewählt wurde und die Sowjetjäger so schnell und so tief über den Wedding donnerten, dass die Scheiben sprangen. Nicht alles war Irrtum, was man damals dachte.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Ansgar Koreng / CC BY 3.0

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