Himmelfahrt nach Gethsemane

Himmelfahrt nach Gethsemane – das hört sich ganz anders an als: Von Wedding nach PrenzlBerg. Die Himmelfahrt-Kirche am Anfang des Humboldthains war der Wendepunkt. Eben habe ich den letzten Punkt hinter einen Text gesetzt, der einen Stadtspaziergang von der Gethsemane-Kirche an der Stargarder Straße in PrenzlBerg hierher in den durch seine großen Straßen brummenden Wedding, zur evangelischen Himmelfahrt-Kirche beschreibt:
Das war – theologisch gesehen – ein Spaziergang in der richtigen Reihenfolge: Erst kam der Verrat des IM Judas und die Schwäche der Freunde, dann die Verhaftung mit berühmten Zitaten (z.B.: Der Geist sei willig, aber das Fleisch ist schwach, obwohl doch meistens schon der Geist nicht mitmacht), und am Ende der Erdengeschichte: die Auffahrt in den Himmel. Nun wäre die Christensage umzukehren…
Was gibt das denn für eine Geschichte?: Erst aufgefahren ins Imaginäre, dann doch wieder in Händen der Denunzianten, Polizeifolterer, Strafvollstrecker; die Verfolgung des Menschen durch den Menschen, die Treulosigkeit, das Herausreden – das wäre trotz aller „höheren Sphären“ unausweichliches Menschenschicksal: So ist der Mensch, am Vormittag Bruder, Freundin – am Abend Gefängniswärter, Spötterin in den Armen des lustigen Anderen.

Aber was hätten solche verdrehten Gedanken mit dem Wedding und mit PrenzlBerg zu tun? Liest man die Anschläge im Schaukasten der Pfarrerin Dietlinde Stobbe, lernt man, dass Kirche jedenfalls eher eine soziale als eine theologische Veranstaltung ist. Diese Himmelfahrtkirche hat trotz ihrer Buntfenster nichts Himmlisch-Bedrückendes, es ist ein Gotteshaus des sozialen Wohnungsbaus, passend zur Umwelt.
Ich umwandere die geweißte Kirche mit integrierter Diakoniestation von Wall-Toilette zu Wall-Toilette, dieser hilfreichen Einrichtung, die für 50 Pfennige sogar Musik zur Notdurft liefert, hier scheint sie mir passend zum Park gar grünlicher eingefärbt zu sein als ihre Kollegen anderswo.
Zur Linken der fast rührende, schmal überdachte Auszug aus einem privaten Fotoalbum: „Von meiner Firma ausgeführter Kinderspielplatz am kleinen Bunker, Sept. 1950“. Da hat einer in bescheidener Namensverschweigung sich und seinen Mitarbeitern, den Herren Belitzky und Büsing, ein Erinnerungszeichen aufgerichtet, das nun bald ein halbes Jahrhundert überbrückt.

Ich überquere die Brunnenstraße; links das gerade fertig gewordene Gesundbrunnen-Center, das die für verschiedene deutsche Zeiten so charakteristische Stadtgegend nun entscheidend verändert; zu kaufen gab es hier ja schon immer allerhand, Vorstellungen, Waren, Anteilnahme, vor allem, als es noch hüben und drüben gab, Ost und West; jetzt also: Center, hier wären wir also in einer Mitte?
Vielleicht wird unsere Zeit einmal bekannt sein als die Zeit der „Center“ – frage ich mich, während ich am „Gesundbrunner“ vorübergehe; da versucht ein Kneipier sein Bier und seine Kurzen an die Stelle der mineralischen Verheißungen zu setzen; wir müssten also „gesund“ im rein stimmungsmäßigen Sinnen deuten und in Anspruch nehmen für die Stunde der sanften Vergessenheit, gar der Räusche, durch die wir uns gelegentlich vom Alltag entfernen, als ob wir nicht wüssten, dass er am Morgen danach um so unversöhnlicher wiederkommt.

Gegenüber auf dem künstlich grasgegrünten Sportplatz hinter der Schule mit edelklassizistischer Fassade, auf der zwei Berliner Bärchen südwärts laufen, kicken multikulturelle Kindergruppen auf ein Tor; dem kleinen Schwarzhaarigen mit den dunklen Funkelaugen hängt das gelb-schwarze BVB-Trikot bis in die Kniekehlen, er schlägt prima Flanken und der dickliche Blonde mit dem Bürstenschnitt legt sich kliemannisch quer, versucht ein übers andere Mal, den Ball mit Direktschuss aus der Luft zu nehmen, bis es ihm schließlich gelingt und alle fünf Knirpse in jubelnder Begeisterung die Arme emporreißen, dem himmelischen Schiedsrichter aller Fußballspiele entgegen.
Hier gibt es gute Laune gratis für jeden Vorübergehenden; jeder kann hier lernen, was wirklich ein Lebensziel ist: gemeinsam etwas tun, gemeinsam schwierige Kunststückchen zustande bringen, sich gemeinsam freuen.

Der Herbst gibt der Gegend, die je östlicher umso ruhiger wird, um sich erst drüben in PrenzlBerg aus einer beruhigten Wohngegend wieder in eine großstästische Umkrempelgegend zu wandeln, einen – soll ich wirklich sagen – goldenen Glanz, eine Landschaftlichkeit, die jedenfalls nichts mehr erkennen lässt von der Not- und Streitgeschichte, die hier die Menschen bearbeitet hat, als Berlin herausgestoßen war aus seiner Mittelstadtgemütlichkeit in eine Massenstadt der Industrieproduktion. 100 Jahre zurück; 40 bis zu der Großsanierung der 60er Jahre, die hier das Stadtgesicht nachhaltiger verändert hat als der Bombenkrieg.
Links die Millionenbrücke, die Swinemünder, eher ein Denkmal als eine Brücke, ein Rückstand jener Geschichte, die hier ein paar Jahrzehnte lagerte und vorübergegangen ist. In PrenzlBerg sind noch größere Stücke davon vorhanden.
Die Zwillingsbezirke Wedding und PrenzlBerg haben 40 Jahre lang ein getrenntes Schicksal gelebt. PrenzlBerg erinnert noch deutlicher an die Herkunftsfamilie: an die Stadt des 19. Jahrhunderts; Wedding ist eine Stadt der 60er Jahre.

Der Gleimtunnel in einer abgesenkten feuchten Dunkelheit erhält noch Trennungserinnerungen. Ich beschleunige den Schritt; schon seit der Rügener Straße den spitzen Turm der Gethsemane-Kirche vor Augen über feuerrotem Rathenower Backstein. Die PrenzlBerger Kirche, die den Namen der Verfolgung trägt, ist weitaus prächtig-mächtiger als die Weddinger mit dem verheißungsvollen Namen.
Höher als der Kirchenbau ragen aber die Kräne, die dem bekannten Atze Brauner, der manchen Nachkriegszelluloid-Mythos geliefert hat, ein „Kinozentrum“ bauen, um das berühmte Colosseum herum, seit 1924 ein Lichtspieltheater, 1.350 Sitzplätze damals.
Ich bleibe stehen, sehe ein Weilchen der Arbeit der Kräne zu, oder tue doch so, während ich versuche, Wedding und PrenzlBerg zusammen zu denken: Die Gleimstraße als Stadtlehrpfad. Sie liefert einen Querschnitt durch ein Jahrhundert Berlin, an einer Stelle, die nicht in den Hochglanzbüchern steht, aber die gerade darum echtes Berlin ist; besonders an seinen Imitaten und Nachmachereien, dafür steht die Gethsemane-Kirche, oder in seiner Berühmtheit, dafür steht die Himmelfahrtkirche, dazwischen die Unterhaltungsversuche. „Hör bloß uff mit Hertha“, sagt der Colosseums-Bauarbeiter zum Kumpel. „Meinetwegen solln se uns dett Fernsehen abschalten, denn muss ick det Gekicke wehnstens nich mehr sehn.“

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Angela Monika Arnold (CC BY-SA 2.0 DE)

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