Merkwürdiger Freiheitsjubel

Wie jedes Jahr finden auch an diesem 9. November wieder die Feste zum Mauerfall statt. In allen Medien wird daran erinnert, Sondersendungen, Schlagzeilen und irgendwelche Kuriositäten werden hervorgekramt. Gleichzeitig wird ein Bild gezeichnet, das sich Jahr für Jahr immer mehr von der untergegangenen Realität entfernt. In zwei, drei Jahren wird vielleicht schon behauptet, dass man in Ost-Berlin öffentlich ausgepeitscht und jeden Freitag auf dem Alexanderplatz Hexen verbrannt wurden.

Natürlich war die DDR eine Diktatur: Faktischer Ein-Parteien-Staat, Unterdrückung der Opposition, politische Gefangene und Morde, ein Staatssicherheitsapparat der nicht demokratisch kontrolliert wurde, Fahnenappell in den Schulen. Und doch ist dies nur eine Facette dieses Staates. Ich will diese Dinge nicht verharmlosen, aber ich weiß auch, dass die DDR mehr war als das. Zwar stamme ich aus West-Berlin, war jedoch in den 80er Jahren oft in der DDR, habe zeitweise dort sowie in Sachsen gearbeitet und gewohnt. Daher kannte ich die Verhältnisse relativ gut, jedenfalls besser als diejenigen, die ausschließlich über die Mauer gekuckt haben. Und was ich gesehen habe, war eben das ganz normale Leben. Der Alltag im Osten war nicht geprägt von Angst, sondern von den gleichen Problemen wie im Westen. Wir jungen Leute wollten Spaß, Musik, was unternehmen, Beziehungen. Das haben wir uns genommen, so wie die Jugendlichen im Westen. Natürlich sollte man in der Kaufhalle nicht gegen die SED oder die Russen schimpfen, aber auch in West-Berlin war es nicht sinnvoll, sich z.B. öffentlich zur DDR zu bekennen oder die RAF zu loben. Die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik war zwar größer als in der DDR und man landete auch nicht sofort im Knast, aber begrenzt war sie auch hier.

Die meisten Menschen in der DDR hatten eher materielle Probleme, als dass sie an ihrem Staat verzweifelten. Es ärgerte sie natürlich, dass sie nicht ins „kapitalistische Ausland“ reisen durften, aber ich habe dort trotzdem mehr Leute als im Westen getroffen, die die Mauer verteidigten: Vielen war klar, dass sich die DDR 1961 einsperren musste, um zu überleben. Sie fanden es nicht gut, aber sie haben es eben hingenommen.

Ansonsten lebten die Bürger in Treptow ähnlich wie die in Neukölln: Morgens in vollen Bussen in die Firma fahren, in der Mittagspause über die Arbeit schimpfen, nachmittags einkaufen (wenn auch mit unterschiedlich breitem Angebot), abends mit Ehepartner und Kindern vor der Glotze sitzen und am Wochenende ins Grüne fahren.

Man sagt ja, dass „die Ossies“ eine sozialere Ader hätten und weniger rücksichtslos seien. Vielleicht stimmt das, keine Ahnung. Was sicher nicht stimmt ist, dass die Westler toleranter waren. Ausländer oder Punks mussten sich außerhalb Kreuzbergs oft vor dem Pöbel in Sicherheit bringen, und zwar nicht nur vor der berühmten „Wilmersdorfer Witwe“.
Aber eigentlich ist die ganze Diskussion auch langsam überflüssig. Mittlerweile sind die Unterschiede zwischen Kreuzberg und Friedrichshain kleiner als z.B. die zwischen Wedding und Dahlem. Lasst uns also feststellen, dass es nun neue und wichtigere Themen gibt.

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