Ackerstraße oben und unten

Es war ein regnerischer Dezember-Tag, der Wind beugte die Bäume und warf mir Schauer körnigen Eises ins Gesicht…
Das wäre ein Romananfang, der meinem Vater gefallen hätte: Da weiß man doch gleich, was los ist, sagte er und meinte: Die Gefühle sind geklärt, die Stimmung liegt fest. Aber diesen Gefallen kann ich ihm nicht tun. Zwar ist es ein regnerischer Dezember-Tag, aber meine Stimmung liegt durchaus nicht fest. Die Ackerstraße führt durch verschiedene Stimmungslagen. Das mag anderen anders gehen; ich empfehle, den Praxistest zu unternehmen, einen sentimentalen Elch-Test: Wie kommt einer durch die Hindernisse der Geschichte auf einen geraden Gegenwartsweg. Der Mitte-Teil der Ackerstraße ist mir immer noch ungewohnt, er bietet mir immer noch Maueröffnungs- und Wiedervereinigungs-Gefühle. Ich hatte mich in West-Berlin schon eingerichtet. Seitdem will ich mir niemals mehr vormachen lassen, dass Teile das Ganze vertreten können. Die Weddinger Ackerstraße dagegen erzeugt in mir ganz andere, ältere, geschichtlichere Gefühle.
Als ich Mitte der 60er Jahre anfing, im Wedding zu arbeiten, sah die Ackerstraße noch ganz anders aus als heute. Man konnte in und an ihr noch deutlich erkennen, was sie in die Geschichtsbücher gebracht hatte, nämlich dass sie das Gegenteil, buchstäblich der Hinterhof, der Weltgeltung Berlins war, die jenseits der Bahn, die Chausseestraße von Süden nach Norden, vom Oranienburger Tor nach Wedding, Fabrik für Fabrik, Borsig, Schwartzkopff, Wöhlert, Pflug, Rathenau entstand und sich Fortschritt nannte.

„Wer nie bei Siemens-Schuckert war / bei AEG und Borsig, / der kennt des Lebens Jammer nicht, / der hat ihn erst noch vor sich.“ Der zentrale Punkt dieses Geschichtsstückes, das ich hier – wie gesagt – in steinernen Zeugnissen noch gesehen habe zu einer Zeit, die ich für mich immer noch Gegenwart nenne, war Meyer’s Hof; hochberühmt unterdessen in der Kulturgeschichte, vor allem durch den zweiten Band des epochalen und ultimativen Werks meines Freundes Johann Geist: Geschichte des Berliner Mietshauses, drei Bände (das ich nach wie vor in die Handbibliothek aller wünsche, die über und in Berlin etwas zu sagen haben).
Meyer’s Hof verschwand erst in den 70er Jahren aus der Ebene der gegenständlichen Sichtbarkeit, die exemplarische Mietskaserne in Plus und Minus. Sechs Hinterhöfe, fast 3.000 Bewohner, Ackerstraße 132/133. Ich sehe noch die Wolken, die aufstiegen, als hier gesprengt wurde, was das 19. Jahrhundert hinterlassen hatte.
Manche spendeten Beifall, andere blickten betroffen und hatten das Gefühl, dass hier der Senat oder die BRD oder die SPD oder die DEGEWO oder werweißwer nicht nur die neue Zeit größstädtischer Wohnkultur vorbereiteten, sondern auch die alte Zeit gefühllos beendeten. Denn in diesen Mietskasernen der Ackerstraße gab es eben nicht nur Elend, sondern es gab auch eine eigenartige, originelle, von den Bücherschreibern wenig zur Kenntnis genommene Arbeiterkultur, der kein Fontane entstanden ist wie den Bürgern, die jenseits der Bahn ihre Geschäfte machten und ihre Gefühle pflegten. Gegenüber von Meyer’s Hof die sogenannte Schrippenkirche, eine christliche Initiative zur Milderung von Obdachlosigkeit und Not. Auch fort, verschwunden bis auf eine porzellanerne Gedenktafel, die niemandem etwas sagt, der nicht schon alles weiß.

Die Weddinger Ackerstraße ist unten und oben für Autos geschlossen. Ein verkehrsberuhigtes Gebiet. Der Wilhelm-Zermin-Weg, der diesen Namen führt, seitdem nichts mehr an die Häuser erinnert, die der Namensgeber für den Vaterländischen Bauverein hier hatte errichten lassen, führt von der Hussitenstraße zur Ackerstraße hinab, nach Norden hin sehe ich über die Hoflandschaft den Turm der Sebastian-Kirche: Erste katholische Kirche im Berliner Norden, letztes Zeugnis der Gegenwart, die hier nun so endgültig vergangen ist, dass nur noch alte Leute Erinnerungen an ihr letztes Kapitel bewahren. oder vielleicht auch gar nicht mehr bewahren wollen.
Ich befrage mich selbst. Die Geschichte streichen, neu und besser anfangen; hier erkenne ich, dass auch schon meine eigene Geschichte die Verbindung zum Allgemeinen verloren hat und ins Persönliche übergegangen ist.
Die Glocken der Sebastian-Kirche schlagen. Wird hier jemand aus- oder eingeläutet? Sie verklingen, der Übergang von Glockenschlägen ins allmähliche Schweigen rührt mich jedes Mal, ein Kann-nit-verstand-Gefühl: Jetzt noch andere, demnächst auch du, auch du.

Ich gehe auf den Ort zu, wo einst jener Meyer’s Hof stand. Weiß-grün, nach Osten auch gelb, gelblich, ordentliche Häuser der Zeitgemäßheit, die Gegend ist ruhig, abgeschlossen, Tiefgarage, nur ein einziger Hof, hinten das Lazarus-Krankenhaus, „Das Benutzen der Müllcontainer ist in der Zeit von 22 bis 6 Uhr untersagt“, nichts sieht nach drängender Not aus. Nebenan die Ernst-Reuter-Siedlung, am Theodor-Heuss-Weg ein Birkenwäldchen, Kiefern, ein paar Pappeln; eine Statue Ernst Reuters, zwei Blumenschalen davor, als ob er hier der Ewigkeit entgegen ruhte.
Am Ende des Gartenstadtweges die Mauer, die die Wohnquartiere von der Bahn und von den Produktionsstätten trennte, historisch eine vielleicht bedeutendere Mauer, als jene Mauer, die wir heute noch immer „die Mauer“ nennen und an die ein Stück weiter unten in einer alle Weltkriegsopfer einschließenden undifferenzierten Weise gedacht werden soll. Als ich oben am anderen Ende der Ackerstraße, bei der Bahnbrücke, an der Scheringstraße stehe, wo es für Autos nicht weiter geht, und als ich zurückblicke, kann ich in mir kein Gefühl des Verlustes und der Trauer mehr darüber feststellen, dass es hier kaum noch Erinnerungen an die Zeit der ausbeutenden Wohnungsnot mehr gibt. Ich kann die sechs Hinterhöfe vermissen. „Erst mal müssen alle Leute ihr eigenes Klo haben, mit Wasserspülung und mit fließendem Wasser und mit Badewannen, nicht nur am Sonnabend und mit nur einmal Wasser für alle!“, sagte mein Vater, dem so sehr an sicheren Gefühlen gelegen war. Ich gedenke seiner mit Rührung. Je älter ich werde mit umso größerer Zustimmung.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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