Auf dem Weg ins Büro

Es ist überliefert, dass der stellvertretende Unterstaatssekretär am 2. Juli auf dem Weg ins Büro, wie er selber sagte – „eine kleine Biege ging“. Von seiner Wohnung in der Großbeerenstraße nahm er an diesem Morgen nicht den geraden Weg ins Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße, sondern ging „ein Stück am Ufer entlang, um nachzudenken, mitten in dem Getöse mit den Gedanken allein“. Wir wissen nicht genau, ob das „Ufer“, das der Herr von Holstein hier meinte, das Tempelhofer Ufer gewesen ist, es liegt aber nahe. Es war ein Sommertag im Jahre 1882; den Landwehrkanal fuhren die Kähne auf und ab; Pferdefuhrwerke, Droschken begleiteten die Exzellenz.
Heute wissen nicht mehr viele Menschen, wer dieser Holstein war. Auch damals wussten es nicht viele. Man kannte ihn nicht, er wollte nicht gekannt sein. Er war der klassische „Mann im Hintergrund“, das Vorbild für ein Stichwort: „die graue Eminenz“, der Mann, dem man es nicht ansieht, der aber die Fäden in der Hand hat oder wenigstens denjenigen, die im Vordergrund agieren, die Stichworte gibt.

Der Mann im Vordergrund war hier Bismarck, Preußischer Staatsminister, Reichskanzler. In der berühmten (und auch etwas berüchtigten) „politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes des Deutschen Reiches“ arbeiteten 1882 unter dem Staatssekretär Grafen Hatzfeld (dem Sohn der Lassalle-Freundin!) vier geheime Legationsräte. In dem zu Anfang des Jahrhunderts populären Verherrlichungsbuch „Stunden bei Bismarck“ von Heinrich von Poschinger heißt es über diese Räte, die die Politik der neuen Weltmacht Deutschland bestimmten: „Bis Mitte 1882 bestand unter den vier Männern ein gutes kollegiales Verhältnis, das zum ersten Male einen Stoß erhielt, als durch Verfügung seines Gönners, des Grafen Hatzfeld, vom 1. Juli an Herr von Holstein zum stellvertretenden Unterstaatssekretär ernannt wurde … Da Hatzfeld und Holstein sehr zusammenhielten, so kann man sich denken, wie einflussreich der Letztere durch diese Verfügung zeitweilig wurde, da der Staatssekretär sich oft tagelang in seinen Kiosk (im Garten Wilhelmstraße 75, dem alten Deckerschen Grundstück) zurückzog und mit den Räten … nach berühmtem Muster nur mit Bleistift verkehrte.“
Was war das also für ein Mann, der da am Tag nach seiner zweifelhaften Ernennung vor unserem imaginären Fenster am Tempelhofer Ufer vorüberging und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, bevor er im Büro ankam? Seine „geheimen Papiere“ sind seit Ende der 50er Jahre dieses Jahrhunderts nicht mehr geheim, sondern in drei dicken Bänden veröffentlicht. Lassen wir ihn also durch die Geschichte gehen, begleitet von den Kommentaren derer, deren Beruf es ist, zu bewerten, was vorbei ist, und woraus doch niemand etwas lernen will.

Als die graue Eminenz an unserem Fenster vorüberging und wir sie wie alle anderen nicht erkannten, kam der Mann aus der Großbeerenstraße. Von seiner Wohnung dort in Nummer 40 gibt es eine Schilderung von einem der großartigsten Journalisten, den Deutschland jemals besaß: von Maximilian Harden. Der Text stand (nicht in der „Zukunft“, der aufregendsten Wochenschrift, die es vor den „Spiegel“ gab, fast ganz allein von Harden geschrieben, sondern:) in dessen Buch „Köpfe“.
Hier ist ein Stück aus diesem journalistischen Glanzstück: „Großbeerenstraße 40, dicht am Kreuzberg, Kleinbürgerhäuser, Kleinbürgerläden. Fünf Minuten davon … poltert, kreischt, protzt das neue Berlin in Stuckpomp. Hier, zwischen der Hagelberger und der Kreuzbergstraße, ist es still. Kein Bierpalazzo, kein Prunkladen. Einige Kutscherkneipen, der Bäckermeister, der für drei, vier Gäste Sitzgelegenheiten bietet, Napfkuchen, Windbeutel, Sahnebaisers bereithält, auch, wenn es verlangt wird, Kaffee kochen lässt, nennt sich nur schüchtern Konditor, sogar Grünkramkeller gibts da noch, vor denen auf dem Pflaster Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben und Äpfel stehen.
Das Surren des Straßenbahndrahtes dringt nur sacht in die graue Stille; wird im Sommer von dem Rauschen des Wasserfalls übertönt, der schäumend durch den Viktoriapark stürzt. Wer vor Nummer 40 steht, sieht die weißen Gischtkämme. Das vornehmste Haus in der Runde … eng und düster. Ein paar Holzstufen. Links den Klingelstrang ziehen. Eine schmächtige Frau mit weißem Haar und freundlich schweigsamem Gesichtsausdruck öffnet. Frau Röber, die treueste, zuverlässigste Schaffnerin. Die lässt keinen Unwillkommenen hinein; ist durch die pfiffigste Reporterkunst nicht ins Schwatzen zu bringen. Ein schmaler Korridor, der kaum zum Umdrehen Raum gewährt. Drei Zimmerchen. Alte, ganz schlichte Möbel, die auf den Westberliner (sic!) wie Urväterhausrat wirken. Nur das Allernötigste. Im Arbeits- und Wohnzimmer ein Schreibtisch, eine winzige Bibliothek. Im Schlafzimmer das Bett eines Försters oder Landlehrers; daneben, auf dem Nachttischchen, ein Leuchter mit Kerze. Nirgends die leiseste Ahnung von Luxus und Üppigkeit.
Kein Gas. Kein Telefon. Und doch war es in dieser Parterre-Wohnung behaglich. An Winterabenden besonders, wenn dichte Vorhänge vergessen ließen, dass draußen, hinter der nächsten Ecke, das Leben brande. … Doch hier, in diesem südwestlichen Winkel der Reichshauptstadt, war der Puls deutscher Politik hörbarer als sonst irgendwo. Hohe und höchste Würdenträger kamen ins altfränkische Haus. Der Kanzler, Staatssekretäre, Botschafter, Geheimräte; Fürsten und Grafen; alte Edelfrauen und Großfinanzherren… In diese Parterre-Wohnung liefert das Postamt SW 47 gewiss die interessantesten Briefe, Seiner Exzellenz dem Herrn Wirklichen Geheimen Rat Baron Fritz von Holstein. Der wohnte hier; hatte sich aus dem neuberlinischen Getose hierher gerettet, als auch in der anhalt-dessauischen Enklave zwischen den Westbahnhöfen, die so lange, so dicht neben den Brennpunkten des Straßenlebens, kleinstädtisch blieb, das Menschen-Spülicht ihm lästig wurde. Zu viele Kanzleiräte, Souterrainschreiber, Krämerkinder, Spaziermädchen (in diesem Revier hält mancher Hausbesitzer, manche ehrsame Familie sich nur durch den hohen Mietzins, den eine vom Ertrag der Prostitution sich redlich Nährende zahlt). Er brauchte Luft, Ruhe, Sauberkeit …“

Aber manchmal – wir wissen es – brauchte er auch das „Getöse des Ufers“, um seine „Gedanken zu ordnen“ und – stellen wir uns vor – ein entferntes Gefühl von der Welt zu erhaschen, deren Verlauf er von der Wilhelmstraße aus zu beeinflussen suchte. Er geht an uns vorüber. Schon ist er vorbei. Ich gehe hin, wo er hergekommen ist, und betrachte Großbeerenstraße Nummer 40. Damals und jetzt. Damals ist vorbei. Kreuzberg 1997 ist besser als Kreuzberg 1882.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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