Alt-Lübecker in Altglienicke

Von Halensee, wo ich wohne, sind es mit der S45 nur bequeme fünfzig Minuten ins Neubaugebiet Altglienicke: so weit wie von Hamburg nach Lübeck. Der Vergleich mit Lübeck fällt mir ein, weil zwei der soundsovielen Architekten, die in Altglienicke für Stadt und Land eine Stadt ins Land gebaut haben, Lübecker sind. Man verwendet das Präsens, meint aber Perfekt: Ich bin auch Lübecker gewesen, die Architekten Boye und Schaefer, die an der Nippeser-/ Rodenkirchener Straße gebaut haben, waren in den späten 40er und frühen 50er Jahren Jahrgangsgenossen von mir am Karharineum in Lübeck, wo wir Griechisch und Latein lernten, aber von der jüngsten deutschen Geschichte nur die Lügen der adenauerzeitlichen Begütigung. Wohnstand statt Wahrheit, der Wohnstand wird uns frei machen, mit der Wahrheit hat man nur Ärger.
Unsere Generation! Es wird Zeit, dass wir uns mit uns selbst beschäftigen. Was haben wir so getan? Wie sehen zum Beispiel unsere deutschen Häuser und deutschen Dächer aus? Diese Frage kommt mir etwa in Höhe Baumschulenweg hoch. Soll ich sie jetzt auf Boye und Schaefer abladen?

Der passende S-Bahnhof ist nicht Altglienicke, sondern Grünbergallee. Berge gibt es hier kaum. Grün ganz viel, aber die Allee heißt nach einem aufrechten Mann; ich nehme jedenfalls an, dass er ein Aufrechter war, hingerichtet, heißt: ermordet in Plötzensee 1942, am Bahnhof eine Gedenktafel, aus der man nichts lernen kann. 1942 ist weit weg; die Gartenstadt, das sogenannte Kölner Viertel, gibt es erst seit vorigem Jahr.
„Wissen Sie, warum das hier Kölner Viertel heißt?“, frage ich eine ganz schicke junge Frau.
„Heißt es so?“; eine andere sagt; „Na, wegen der Straßen“.
„Und warum heißen die Straßen nach Köln?“
Sie zuckt mit den Achseln und macht einen netten Versuch: „Weil’s da schön ist“, am Rhein, so schön. Meine Schwester hatte mal einen Bungalow in Porz. Das war auch nicht Köln. Es war gar nicht in Porz, sondern in Pesch. Eine Pescher Straße könnte es hier auch geben. Das gehört auch zu Köln, ohne Köln zu sein. Wie ist Köln denn? Hier also: Wie ist Berlin denn? Umgekehrt wird ein Handschuh draus: Ist hier Berlin? Wenn man in der Coloniaallee, im Hochhaus, elf Stockwerke, hochsteigt und zum Horizont sieht, sieht man Berlin, hinten im blauen Dunst.

„Ham Sie nen Milchkaffee?“, frage ich die Bäckerin am Ehrenfelder Platz.
„Kaffee hab ich, Milch liegt dort vorn am Tresen, wenn Sie die rinnschüttn, ham Se Milchkaffee!“
Das ist Berlin. Berlin liegt nicht erst hinten am Horizont. Hier ist Berlin. Berlin ist eine Denk- und Redeweise. Das auch.
In der „Stadtbauwelt“ erfand der ehemalige Lübecker Bausenator, der in Berlin als Senatsbaudirektor auch mal eine Baurolle spielte, über die „neuen Vorstädte“ die Formel „Verstädterung der Peripherie“. Ich stelle mir vor, dass ich der jungen Schicken von eben das Wort „Peripherie“ entgegengehalten hätte. Nippes kommt doch nicht von Nippes? Der kleine Kitsch aus der kleinen Kölner Vorstadt?
Ich will überhaupt nicht mehr „Vorstadt“ sagen. Das klingt so, als ob das Eigentliche woanders ist. Vielleicht in Halensee, wo ich wohne, oder in Charlottenburg, wo der Ex-Senator wohnt, oder in Zehlendorf, wo die Architekten wohnen Ich stehe auf der grell-blauen Fußgängerbrücke zwischen Reben- und Birnenweg, die das „Wohngebiet“ Altglienicke über die Eisenbahn mit sich selbst verbindet. Von dort fallen mir an den Bogenhäusern der Porzer Straße erstmal die Dächer auf. „Pultdächer“, platt und schräg, Titanzink. Man darf sie nicht von oben nebeneinander ansehen, da bringen sie die geschwungenen Wohnzeilen um ihre freundliche Wirkung. Man wohnt ja nicht von oben herab, sondern von unten herauf. Das Wohnen fängt auf der Straße an. Von der Straße sind die Häuser Fassaden.
Da gefällt mir die Arbeit meiner Lübecker Landsleute gut. „Anständige Arbeit“ würde ihr Entwurfsprofessor gesagt haben. Weil er gesehen hätte, dass sie ihren Taut gelernt haben. Hinten, jenseits der S-Bahn, am Gartenstadtweg, stehen ganz frühe Taut-Häuser in wiedererweckter Farbigkeit. Und ziemlich nah, an der Preußen-/Germanenstraße, ziemlich verfallene Muthesius-Häuser, die auch die städtebauliche Fahne der Gartenstadt hochhielten. „Gartenstadt“ ist wie „Stadtlandschaft“ ein mächtig missverständlicher Begriff. Er hat auch manch Schiefes und Schräges hervorgebracht. Das Kölner Viertel sit keine Gartenstadt. Sondern ein grünes Stadtviertel, in dem sich – nehme ich an – leben lässt.

Es ist die Mittagszeit. Die Kitas sind ziemlich unbenutzt. Ferienzeit. Man sieht fast nur junge Frauen mit kleinen Kindern. Als ich mir die Kita am Ende der Nippeser-/ Rodenkirchener Straße ansehe, lehnt ein Rentner aus dem Fenster und betrachtet mich. Ich bin der einzige Mensch, den er zur Zeit hier betrachten kann. Ich bleibe stehen und schreibe in mein Notizbüchlein.
„Sind Sie Architekt?“, ruft er herüber. Soll ich sagen: „Jurist!“, das wäre doch auch mächtig missverständlich. Ich mache mich unauffällig, sitze ein Weilchen am Kinderspielplatz gegenüber dem sorgfältig gepflasterten Fußweg, der durch die Kleingärten zum SS-Bahnhof führt. Dann gehe ich die Coloniaallee auf und ab, frage mich, warum das Bezirksamt ausdrücklich auf das Straßenschild schreibt, dass von Colonia das Wort Kolonie kommt. Ich genieße den Landschaftsblick, den der Landschafts-Architekt hinter dem Ehrenfelder Platz über ein spitzdreieckiges Wiesengelände nach Nordosten zulässt, wo der Hausdurchgang von der Chorweilerstraße sich in den sogenannten Colonia-Park fortsetzt. Dort ist das Ristorante, das behauptet: Hier ist Italien, Coesto Italia. Besseren Espresso gibt es in ganz Berlin nicht. Ehrlich!

Nachdem ich von Grünbergallee nach Altglienicke zurückgefahren und nach der anderen Seite über die Fußgängerbrücke gegangen war, brach ein Regen los, der den Gartenstadtweg gurgelnde Bäche hinabschießen ließ. Da sieht man links kundig renoviert und rechts noch renovierungsbedürftig Bruno-Taut-Originale. Die spätere Bruno-Taut-Straße ist eine Ironie auf Taut. Als ich im köpenickschen Grünau in die S-Bahn steige, habe ich das Gefühl, einen weiten Weg zurückgelegt zu haben. Wenn ich jetzt der Lübecker Ex-Senator wäre, würde ich zu der S-Bahnfahrt bis Warschauer Straße vielleicht sagen: Von der Peripherie ins Zentrum.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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