Heimat

Die Heimat beginnt mit der Jugend. Oh ja! Wer die Heimat seiner Jugend verloren hat, der findet keinen Aufenthalt mehr, den er Heimat nennt, wenn die Jugend vorbei ist.
Die Heimat in Siemensstadt beginnt mit der Mäckeritzstraße; sie führt den, der aus dem Untergrund der U7 heraufkommt, links vorbei an den nautischen Wohnbauten von Hans Scharoun, die in den Büchern nicht zur „Heimat“, sondern zur Ringsiedlung gerechnet werden. Der „Ring“ war eine Architektenvereinigung der schwindenden Weimarer Republik, die sich fortschrittlich fühlte. Sechs Ringkollegen bauten hier. Der Fortschritt in den Lehrbüchern ist etwas anderes als der Fortschritt auf der grünen Wiese. Aber heute ist das nicht mein Thema; die Ringsiedlung, jenseits des Jungfernheidewegs, bleibt rechts liegen. Heute konzentriere ich mich auf die Heimat.
Diese Siedlung baute keine programmatische Gemeinschaft, sondern ein einzelner. Er hieß Hans Hertlein. Ein Siemens-Mann, Direktor der Siemens-Bauabteilung. Er baute für Siemens die Verwaltungsgebäude, die Fabriken, die Wohnungen, die Kirchen (unten die katholische St. Josephs-Kirche, oben die evangelische Siemensstadt-Kirche, beide mit italienisierendem Campanile, die evangelische Kirche etwas größer und prächtiger, die katholische etwas heimeliger und eleganter, beide von Siemens finanziert; Siemens war, solange Siemens zahlte, für alles zuständig).

Diese „Heimat“ war zunächst eine Baugesellschaft, die von Siemens kräftig unterstützt wurde. Ihre Siedlung jenseits der S-Bahn nennen wir aber nun auch Heimat, weil sie seit 1934 für manche und manchen Heimat geworden ist, in der man die geheimen Wege kennt und die Winkel des Einverständnisses. Manche, ach wie viele und wo, in welchen Fernen, werden sich nach dem Quell- (oder früher Brunnen-) Weg, nach Natalis-, Schwieger- und Lenther Steig gesehnt haben, bevor ihnen in der Fremde die Augen brachen! Diese Heimat erreicht man über Jugendweg und Jugendplatz. Die Hans-Scharoun-Häuser, die sich in die Mäckeritzstraße biegen und die geschwungene Seite des Jugendplatzes bilden, gehören eigentlich nicht zur Heimat und nur bürokratisch zu Spandau, inhaltlich gehören sie nach Charlottenburg, wie die ganze Ringsiedlung. Die Siedlung Heimat beginnt also – beziehungsvoller kann die Geographie einer Wohn- und Lebens-Anlage doch nicht sein – nach der Jugend.
Am Anfang zwei Bögen. Erst der S-Bahn-Bogen (die S-Bahn Jungfernheide-Gartenfeld ruht; als Siemens nach dem ersten Weltkrieg kräftig expandierte, war sie eine Industrienotwendigkeit; wäre sie es doch heute noch, möchten wir wünschen, wenn wir auch die Kriege als Entwicklungsväter der industriellen Dinge lieber in anderen Ländern… nein, nein: so wollen wir erst gar nicht zu denken anfangen). Dann der Entree-Bogen, den Hertlein mit Straßenüberbauung schuf. „Heimat“, sagt dort auch die Eingangskeramik, die in hergebrachter deutscher Märchenhaftigkeit den Begriff auch gleich mit einem spitzgiebeligen Alleinhaus verbindet, so dass jeder, der die Keramik ernst nimmt, eigentlich denken müsste, dass nun eine Heimat bestimmt nicht kommt. Er wird sich durch eine Bildhauerei, die mit der Architektur geistig nicht mitkam, nicht täuschen lassen.
Die Straße, die unter dem Torbogen hindurchführt, heißt Quellweg (oder – wie gesagt – früher: Brunnenweg, das ist dieselbe Assoziation): als ob die Häuserzeilen zur Linken, im Westen, hervorquellen aus dem spendenden Born. Als die Quelle haben wir uns wohl Siemens vorzustellen; natürlich, hier ist alles Siemens; die letzte im geschwungenen Häuserbogen bebaute Straßenzeile heißt Lenther Steig, nach Lenthe bei Hannover, wo Werner von Siemens geboren wurde und wo ihm niemand in die Wiege sang, was er wurde. Zwischen den also an drei Straßen entlang schwingenden Häuserzeilen liegen Höfe, die man gar nicht Höfe nennen sollte: denn es sind fast Privatparks. Wer an einem sonnigen Frühherbsttag, von dem man wünschen möchte, dass er immer dauerte, durch diese drei Straßen läuft, nach Norden, nach Süden, auf den Campanile der einen, dann der anderen Kirche zu, der ist versucht zu sagen: Schöner kann eine städtische Arbeitersiedlung doch überhaupt nicht sein. Sie führt die Privatparks zwischen den Häuserzeilen schließlich über in den allgemeinen Park, der hinter dem Schuckertdamm nach Werner von Siemens heißt.

Werner von Siemens, der Gründer, war ein fortschrittlicher politischer Denker, kein konservativer Unternehmer. Er unterschrieb – das fällt mir auf meinem Weg von der Siemensstadt- zur Josephs-Kirche ein – Theodor Mommsens berühmte Anti-Antisemitismus-Resolution mit seinem berühmten Namen. Aber er schrieb dann an den berühmten Resolutionisten: Die Judenfurcht habe doch eine gewisse Berechtigung, die Kapitalmacht der Juden sei doch wirklich … ob er da die Rathenaus und die konkurrierende AEG vorausdachte? In Deutschland legt der Teufel auf alles seinen Schwanz, will ich schon denken, während ich mich niedersetze auf der halbrunden Bank gegenüber der Josephs-Kirche, neben den Ebereschen, Weiden, Robinien. Es gefällt mir hier, es ist hier schön. „Eine ordentliche, ruhige Gegend“, sagt später die junge Frau, mit der ich ins Gespräch komme, „und deshalb gibts so viel Klatsch und Tratsch hier.“ Natürlich! Klatsch und Tratsch sind wichtig wie das tägliche Brot. Man kann auch sagen: Geschichten. Geschichten, Plural, nicht Geschichte, Singular. Die 3000 Siemensarbeiter, denen unser Hans Hertlein weiter unten am Rohrdamm ein Denkmal gesetzt hat, weil sie im Krieg getötet worden sind, und die Tausende, die sie vorher getötet haben werden – das sind Opfer der Geschichte. Wie heute die Hungernden in Nordkorea und im Sudan … Ich registriere einverständlich, dass im Kirchenkasten von ihnen die Rede ist. Es ist das Mit-Leiden oder mindestens das Mit-Fühlen, was Heimat möglich macht. Und eigentlich ist es das Nach-Denken. Die Einsicht. Das mutige Handeln nach den guten Einsichten. (Sagt Theodor Mommsen, den Siemens ein bisschen zu lasch fand.)

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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