Massenrhythmus

Ich las das Wort und dachte, ich müsste ihm nachgehen: Massenrhythmus. Die Architektursprache ist eine angestrengte Fachsprache. Meine berufliche Fachsprache liefert die Jurisprudenz. Damit kann ein normaler Mensch auch zunächst nichts anfangen.
Die Architekten Mebes und Emmerich aus Zehlendorf, selbst Villenbewohner, gehören zu meinen Balkongöttern. Obwohl ihre Bauten nichts Olympisches haben. „Wir sind bald richtige Mebes-und-Emmerich-Spezialisten“, sagte Manne Jagusch, der Fotograf, als ich ihm vorgestern die neue Spaziergangsadresse nannte: Prenzlauer Berg, Dunckerstraße zur Wisbyer Straße hinauf, rechts und links.

Das Metropolitane an Berlin liegt ja oft schon darin, dass man so schnell von einem Standort zu anderen gelangt, dass sich die Eindrücke überlagern und dem Erinnern eine Plastizität verleihen, die aus jedem Kiez einen Weltstadtteil macht. Ich komme mit der S4 aus Halensee, vom oberen Kudamm, steige aus am Bahnhof Prenzlauer Allee, biege schnell in die Kanzowstraße ein, die sozusagen eng und breit zugleich ist, noch verfallend und schon erneuert; der Namensgeber war ein Lebensbeschreiber aus der Renaissance, manche Fassaden tun so, als seien sie auch aus dieser Zeit, das Schulgebäude zum Beispiel in der Duncker-, auf das die Kanzowstraße zuläuft: die Fortsetzung des Kudamms mit anderen Mitteln.
In dem Stadtquartier zwischen Erich-Weinert-, Gudvanger-, Wisbyer Straße und Prenzlauer Allee, das die Duncker-, Krüger- und Kuglerstraße sich kreuzend durchqueren, haben zwischen 1926 und 1929 vier Wohnungs-Baugesellschaften, darunter die DeGeWo, anderthalbtausend Wohnungen in sechs Unterquartieren bauen lassen von sechs Architekten oder Architekten-Teams; das sechste Team ist für die Bücher „unbekannt“, diese Architekten hießen Franz Fedler und Hans Kraffert.
Das Areal bietet in einer Art Freiluftmuseum ein Glanzstück des Massenwohnungshaus der ersten deutschen Republik. Davon sah man in den vierzig DDR-Jahren nichts. Die DDR ließ auch diese Tradition der deutschen Arbeiterbewegung verfallen. Es war ihr wurscht. Oder sie konnte nicht anders. Weil sie – altes deutsches Gelüste – nach draußen mehr scheinen wollte, als sie drinnen war.

Das ist vorbei. Die DeGeWo ist wieder hier (und die GSW). Die Gesellschaften renovieren. Nun sieht man, dass das wirtschaftliche, soziale und eben auch das ästhetische Programm der Weimarer Republik beständig ist. Es hält stand. Die damals des geheimen Konservativismus verdächtigten Mebes und Emmerich bestehen ebensogut wie ein Stückchen weiter (mit der damals sogenannten Legien-Stadt) der inzwischen zu den Lehrbuchklassikern zählende Bruno Taut.
An der Kreuzung Krüger-, Kugler-, Dunckerstraße bilden die Bauten eine Art Doppelplatz. Er könnte belebt werden. Hinter den Straßenfronten liegen grüne Höfe, dicht und dunkelgrün in dem Mebes-und-Emmerich-Block zwischen Erich-Weinert-, Meyerheim- und Dunckerstraße, schwarz und verfallen inmitten des unregelmäßigen Hausfünfecks am Schnittpunkt von Wisbyer Straße und Prenzlauer Allee und erneuerungsbedürftig die offenen Doppelhöfe zwischen den Blocks der „unbekannten“ Meister, die hier den städtebaulichen Vogel abgeschossen haben.
Das Wort „Massenrhythmus“ verwenden die Bücher für die gestaffelten Dachgeschosse, mit denen die Architekten Braun und Gunzenhauser die mächtigen Blocks auf der westlichen Seite der Dunckerstraße zwischen Krüger- und Weinertstraße abschlossen: als ob die Fassaden, die hier in der Dunckerstraße renoviert, in der Weinertstraße noch schwarz sind, Musik wären. So weit muss man wirklich nicht gehen. Begeisterung ist nicht das Gefühl, das den Stadtgänger überkommt, der hier beobachtet. Sondern Anerkennung: unsere republikanischen Großväter haben getan, was sie konnten: Für möglichst viele Menschen möglichst anständige Wohnungen in möglichst anständigen Häusern in möglichst lebenswerten Stadtquartieren. Die Massen im Rhythmus der Moral; Architekt – das ist ein sozialer und nur nebenbei ein künstlerischer Beruf. Architektonische Leistungen werden nach sozialen und nur als Zugabe nach ästhetischen Kategorien vermessen. Hässlichkeit ist allerdings auch asozial.

Damit bin ich über die Wisbyer Straße hinüber, betrachte schnell in der Pankower Talstraße die Mebes- und Emmerich-Bauten, die hier in etwas bürgerlicherer Machart den Dunckerstraßen-Blocks fast gegenüber stehen, und erreiche über die Hertastraße Weißensee. Ich raste vor dem Straßencafé neben der mächtigen Kastanie, mit der Weißensee nach Norden beginnt oder nach Süden endet und die später der Mittelpunkt des großen Neubezirks sein wird aus den bisherigen dreien. Ein kleiner Budenmarkt, hinter der „Brotfabrik“, jetzt ein Kino, gegenüber dem „Delphi“, jetzt kein Kino mehr.
Rückweg mit dem 156er. Die Fahrt bis zum Storkower Bogen ist eine Architekturreise durch die Plattenbaukultur, die viel vielgestaltiger ist, als schnell urteilende Fremde es sich klarmachen. Massenwohnungsbau unserer Zeit; oder: unserer Zeit schon nicht mehr, auch schon eingeholt von Geschichte, von jener Container-Geschichte, in der wir eine Gegenwart einschließen, zu der wir selbst als Vergangenheit kein eindeutiges Verhältnis gewinnen können. Das Leben wird gelebt; einmal ist es vorbei; es gibt kein zweites Mal.

Der Storkower Bogen bietet einen belebten Innenhof- Marktplatz kann man fast sagen: „Wohngebiets-Zentrum“ heißt der Ausdruck in der Bürokratensprache, die allerdings auch Eis-Michel benutzt. Dort mache ich Pause.
Das Ehepaar am Nachbartisch überlegt nach Katalogen, ob sie nach Casablanca fahren sollen oder nach Venedig. „Nee“, sagt Er, „wir fahrn nach Casablanca, wir könn besser Arabisch wie Italienisch“ und haut sich lachend auf die Schenkel: „Hundert Meter ist der Strand breit.“ „Oder tief“, schiebt er leiser und zweifelnd nach, „und Menschen in Massen“. Das klingt schon, als ob er lieber bliebe.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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