Wofür dagegen?

Den größten Teil meines Lebens war ich dagegen. Wogegen? Gegen ziemlich viel. Anfangs natürlich gegen jegliche Vorstellungen, die mein Vater hatte, dann gegen die letzten Lehrer aus der Nazizeit und – auch noch zu Schulzeiten – gegen die Polizei. Die hatte uns protestierende Jugendliche auf dem Schulhof bewacht wie in einem Freiluftknast.
Atomkraft, Franz-Josef-Strauß und eine schwulenfeindliche Gesellschaft waren die nächsten Feindbilder, die „Spießer“ gehörten pauschal dazu. Und auch „die Amis“, gegen die ich im „besetzten“ West-Berlin demonstrierte.

Meinen persönlichen Vorstellungen vom Leben standen viele Jahre die herrschenden Verhältnisse entgegen. Da war mein Bedürfnis, viel Platz zu haben, um meine Kreativität ausleben zu können. Dagegen standen Hunderte von Häusern leer, allein zu Spekulationszwecken. Also beteiligte ich mich an Besetzungen, lebte in 100-Quadratmeter-Etagen und hatte mehr Platz als genug.
Ich war gegen die Vereinzelung und auch dieses Problem konnte ich lösen, für mich jedenfalls, auch in den Häusern. Dort entstanden Kommunen, Arbeitskollektive, Rockbands, alles war selbstverwaltet und vom Staat nicht kontrolliert.
Auch die bürgerlichen Sexualnormen lehnte ich ab, ich probierte Hetero- und Homo-, 2er-, 3er- und 4er-Beziehungen aus. Sex im Park, auf dem Dach oder in der S-Bahn? Kein Problem.
Dass ich auch den Zwang zur Arbeit ablehnte, versteht sich von selbst. Über viele Jahre konnte ich mich durchmogeln: Sozialhilfe, Prostitution, Einbrüche und nebenbei der Verkauf von selbstgemachten Postkarten oder angemalten Pflastersteinen an Touristen.
All das waren nur individuelle Lösungen, um mich dem zu entziehen, das ich ablehnte.

Aber was ist das eigentlich und was will ich stattdessen? Diese Fragen stelle ich mir selber seit Jahrzehnten immer wieder, ohne sie wirklich beantworten zu können. Sicher, es gibt einige Stereotypen, Floskeln wie „Sozialismus“ oder „klassenlose Gesellschaft“. Erklären tun die aber nichts.
„Ihr könnt nur dagegen sein“, habe ich oft gehört, „aber Ihr wisst nicht, wofür Ihr seid.“ Damit soll Kritik und Protest diffamiert werden, wer kein konkretes Ziel hat, hat auch keine Legitimation zu protestieren. Das hörte man auch oft in Bezug auf die Occupy-Bewegung und sogar auf die arabischen Revolten. Aber das ist Quatsch. Natürlich kann man gegen Unrecht, gegen Unterdrückung, gegen Umweltzerstörung sein, auch wenn man nicht gleich einen Generalplan für eine andere Gesellschaft in der Tasche hat.

Das gab es ja schon mal, als aus der 68er Bewegung unzählige kommunistische Parteien entstanden, die alle ein neues System wollten, wenn auch meist an Vorbildern wie Stalin, Mao oder anderen Großmeistern der Volksdiktaturen angelehnt.
In den 70er und 80er Jahren wurden durchaus kollektive Gesellschaftsformen ausprobiert, natürlich nur im Kleinen. Aber sie reichten aus, um zu verstehen:
Ein gleichberechtigtes Miteinander ist möglich, auch ohne Diskriminierung von Frauen, Kindern, Alten, Behinderten, Homosexuellen oder Menschen mit unkonventionellen Lebensvorstellungen oder aus anderen Kulturen.
Geld muss nicht im Mittelpunkt stehen.
Demokratie bedeutet nicht das gleiche wie Mehrheitsentscheidungen.
Toleranz ist die Grundlage von Kollektivität, aber sie hat auch Grenzen.

Das größte und am Längsten bestehende Kollektiv ist wohl die Freistadt Christiania in Kopenhagen. Hier leben seit über 50 Jahren zwischen 1.000 und 1.500 Menschen zusammen, die alle wichtigen Fragen gemeinsam entscheiden. Es gibt keine Mehrheits-, sondern Konsensentscheidungen, bis heute organisieren die Bewohner ihre Gemeinschaft selbst. Ob der Verkauf von Lebensmitteln, die Müllentsorgung, Konzerte, die Versorgung mit Cannabis oder Transportfahrrädern – alles ist gemeinsam entschieden und organisiert.

Dass das auch auf größere Gemeinschaften übertragbar ist, ist natürlich nicht gesagt. Es ist ja viel einfacher, Massen von Leuten zu einem Protest zu mobilisieren, als zum Aufbau einer anderen Gesellschaft. Das merkt man schon, wenn nur eine temporäre Gruppe zur Umsetzung eines bestimmten Projekts entstehen soll und man sich über inhaltliche oder strategische Fragen einigen muss. Wie viel schwerer muss da der Aufbau eines Kibbuzes sein, eines Christianias, einer Partei – oder gar eines ganzen Staates!
Auch in der Ablehnung ist es schon schwer sich zu einigen. Wo liegen die Grenzen der Toleranz? Wie kann man seine Ansprüche umsetzen? Man will Offenheit und keine Denkverbote. Gleichzeitig lehnt man bestimmte Meinungen wie Rassismus und Antisemitismus ab: Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, wie passt das zusammen?

Als Stéphane Hessel im Oktober 2010 sein Heft „Empört Euch!“ veröffentlichte, waren Arabellion und Occupy noch nicht absehbar. Hessels Text wurde auch kritisiert, weil er keine Alternative aufzeigt. Doch seine Integrität aufgrund der eigenen persönlichen Geschichte als Résistance-Kämpfer und KZ-Überlebender gibt dem Büchlein einen ernst zu nehmenden Hintergrund.
In China besetzten 20.000 Menschen jahrelang ein ganzes Dorf, in Tel Aviv und New York öffentliche Plätze und Parks, in Island wurden die Bänker verjagt, in Arabien einige Diktatoren. Um etwas Neues aufzubauen, muss das Alte verschwinden. Ob das Neue besser ist, wie es überhaupt aussehen wird, das weiß man vorher nicht. In Ägypten sah man, wie eine Revolution wieder zerstört werden kann. Wieder schossen Soldaten auf Demonstranten, religiöse Fundamentalisten wollen persönliche Freiheiten beschneiden, die es unter Mubarak noch gab.
Der Umsturz von Systemen birgt immer auch die Gefahr, dass es danach nicht besser ist als vorher. Langsame Veränderungen können dagegen etliche Jahre dauern, oft auch zu lange, um viele Menschen dafür zu begeistern.

Und in Deutschland?
Auch hier regiert das Geld, das Frankfurter Bankenviertel, die Großkonzerne. Und doch ist die bildliche „hässliche Fratze des Kapitalismus“ kaum zu erkennen. Niemand muss hier verhungern oder wird wegen seiner oppositionellen Meinung erschossen. Keine Panzer schüchtern die Leute auf den Straßen ein, jeder Bürger hat die Möglichkeit der medizinischen Grundversorgung. Ich kenne auch das Gegenteil, während meiner Monate in Indien habe ich eine Gesellschaft erlebt, in der der einzelne Mensch überhaupt nichts wert ist. Ein abschreckendes Beispiel.

Was würde sich ändern, wenn in Deutschland plötzlich die Bänker und Großkapitalisten, die Minister, Bild und RTL nicht mehr existierten? Was würde sich verbessern? Würden Rente und Arbeitslosengeld gezahlt? Wohnung und Strom für Hartz-4-Bezieher?
Ich gebe zu, dass ich mich sehr unwohl fühle, wenn ich die bestehenden Verhältnisse scheinbar so verteidige. Gleichzeitig würden mir sofort hundert Dinge einfallen, die bei uns falsch laufen und verändert werden müssen. Mein Dagegen-Geist quält mich, weil er weiß, dass er doch recht hat – ich aber doch keine Antwort geben kann.

Vielleicht sind die Verhältnisse in Deutschland nicht so schlimm. Trotz massenweisem psychischen Schiffbruchs, Einsamkeit im Alter und der geistigen Verblödung in den vielen Medien. In Rumänien gibt es Hunger, in Belgien kriegten sie über ein Jahr lang keine Regierung hin, in Ungarn haben die Rechtsextremisten die Macht übernommen, Italien hatte sich lange den peinlichsten Regierungschef Europas geleistet.
Sicher, wir hatten Merkel, die aber auch schon mal schlimmer war. Die Possen um Scheuer und Laschet gehören zur Volksbelustigung, wirklich schlimm sind sie nicht. Eine Partei wie die Piraten würde es in kaum einem anderen Land der Welt schaffen, in die Abgeordnetenhäuser zu kommen.

Und trotzdem ist da die ewige Opposition. Wenn auch mit vielen Fragezeichen. Deutschland gehört nicht zu den schlimmsten in der Welt, im Gegenteil. Von außen betrachtet werden wir sehr beneidet, weil es immer noch freier und sozialer ist, als die meisten andern Ländern. Und relativ reich, an Geld, an Ideen, an Kultur. Das möchte ich auch gar nicht zerstören. Aber ich möchte trotzdem, dass es besser wird. Es sind noch sehr viele Veränderungen nötig. Manche erreicht man vielleicht durch parlamentarische Arbeit. Andere nur durch Proteste und Aufstände. Und dadurch, dass die Menschen ihren eigenen Kopf benutzen und sich nicht nur verblödende Zeitungen und Fernsehsendungen das Denken abgewöhnen lassen.

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1 Kommentar

  1. Ein schöner Artikel und ein guter Denkanstoß. Dafürsein ist immer schwerer als dagegen. Was man aber nicht vergessen darf, ist, dass auch viele Kritiker des Dagegenseins nicht wirklich mehr über das Dafür nachgedacht haben.
    Aus Ablehnung alleine entsteht sicher noch kein neuer Entwurf, oftmals wird allerdings auch das legitime Ablehnen großer Aspekte der derzeitigen Gesellschaft (z.B. der Kapitalismus als Grundkonzept) fälschlicherweise dem „sturen unbegründeten und allumfassenden“ Dagegensein angelastet.

    Und ich muss gestehen: Wenn man viele Punkte zu kritisieren hat, dann schleicht sich manchmal eben auch der Trotz ein, der dann sagt: „Lass mal anders machen, arg viel schlimmer kann es nicht kommen!“

    Dass das in einem – wie du völlig zu Recht anmerkst – wirklich gut funktionierendem Land wie Deutschland schwierig ist, ist allerdings auch wahr.

    Eine wirkliche Auflösung des Konfliktes müssen wohl die meisten mit sich selbst ausmachen.

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