Der erste 1. Mai in Kreuzberg

1987 gab es in Kreuzberg die bis dahin stärksten Straßenkrawalle zum 1. Mai. Damals wurde die „Tradition“ der Maikrawalle begründet. In einem Romanentwurf habe ich meine Erlebnisse von damals festgehalten, die Namen wurden jedoch geändert. Aufmerksame Leser kennen den Text bereits.

Der 1. Mai war ein warmer Tag. Am frühen Nachmittag gingen wir zum Lausitzer Platz, wo gerade das Straßenfest begonnen hatte. Schon seit ein paar Jahren wurde an diesem Tag im Kiez gefeiert. Auf einer Bühne spielten Bands, Artisten traten auf, einige Läden aus der Gegend bauten Stände auf und verkauften Bücher, Schmuck und Klamotten. Politische Initiativen verteilten ihr Infomaterial und viele einzelne Leute oder Besetzerkollektive boten Kaffee, Saft und selbst gebackenen Kuchen an. Dazwischen gab es Spiele für Kinder, überall hörte man Musik, es war eine fröhliche Stimmung. Diesmal aber, 1987, war etwas anders. Es gab Diskussionen, überall standen Gruppen von Leuten, die laut miteinander redeten. Ich erfuhr, dass in der Nacht zuvor der Mehringhof von der Polizei durchsucht worden war. Dieses Zentrum der radikalen Linken in Berlin war ein Symbol, die Razzia bedeutete ein Schlag gegen die Szene. Opfer der Durchsuchung war das VoBo-Büro, wo die Aktionen gegen die von der Bundesregierung geplante Volkszählung koordiniert wurden. Es war klar, dass es dagegen noch Protest geben würde, aber ich wollte jetzt erstmal nur feiern.

Tobi aber war ziemlich sauer. Und beunruhigt. »Meinste, dass es heute noch knallt? Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen.«
»Klar, da kommt heute noch was, aber jetzt will ich erstmal was zum Futtern und ’n bisschen rumkucken.«
»Tach Mädels, wie geht’s?« Marko war ein richtiger Autonomer, immer zu einer Provo bereit, die Hasskappe in der Tasche.
»Habt ihr Lust auf ein bisschen Action? Wir treffen uns gleich am Görli, vielleicht finden wir was zum Aufräumen.«, grinste er.
Aufräumen – das bedeutete das genaue Gegenteil, Krawall, mit oder ohne Anlass. Hauptsache es knallt. Ich bin jemand, der darauf auch manchmal Lust hat, in den vergangenen Jahren habe ich an fast allen Straßenschlachten teilgenommen. Diesmal aber wollte ich nicht so recht, jedenfalls nicht jetzt schon, am späten Nachmittag.

Noch während wir neben der Kirche am Lausitzer Platz standen, hörten wir Geschrei am Görlitzer Bahnhof. Von uns aus konnten wir aber nichts sehen, außer einem einzelnen Baulicht. Tobi nahm mich an die Hand und so wäre ich mit ihm überall hingegangen. Er wollte aber auch erstmal nur auf dem Fest bleiben.
Auch die Kirchengemeinde hatte einen Stand aufgebaut und verkaufte dort Kekse und Saft. Nicht teuer, aber trotzdem zu viel für mich. In dieser Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten, nett oder böse sein. Also entweder diskutieren oder einfach zugreifen und abhauen. Beides macht auf unterschiedliche Art Spaß, aber weil Christen ja gerne reden, versuchte ich sie meinerseits zuzutexten. Von wegen, dass Jesus ja auch das Brot gebrochen habe und nicht extra Geld dafür verlangte.
»Gebt dem armen Jungen doch was zum Essen, er wird sonst vor Hunger noch bewusstlos, direkt vor eurem Stand!« Tobi gab sich wirklich Mühe.
»Dafür würde er euch bestimmt auch die Füße waschen.«
Ich dachte, ich höre nicht richtig.
»Bist du bekloppt? Wieso denn Füße waschen?«
»Du solltest öfter mal in der Bibel lesen. Da steht das drin!«
Natürlich hatte auch Tobi kein bisschen Ahnung vom Neuen Testament, wahrscheinlich hatte der die Story nur beim Kommunionsunterricht aufgeschnappt.  Aber ob man damit Christen beeindrucken kann?
»Du siehst eigentlich nicht so aus, als ob du nach der Bibel leben würdest«, entgegnete die Hippiefrau schnippisch, aber da war sie bei uns an der richtigen Adresse!
»Wie bitte? Schon als Kind habe ich täglich den Herrn angerufen…«
»…und um Vergebung gefleht für meine Sünden!«
»Genau. Und wie oft habe ich meinen Mitmenschen in schweren Stunden beigestanden!«
»Stimmt. Er hat Trost gespendet und sein letztes Hemd hat er gegeben!«
»Alles im Namen der Barmherzigkeit und des Glaubens.«
»Amen!«
Tobi und ich ergänzten uns hervorragend und wir waren erfolgreich: »Na gut, ihr habt mich überzeugt…«
Wir beide grinsten uns an.
»… dass ihr gute Schauspieler seid. Das soll belohnt werden.«
Sie goss jedem von uns einen Becher Saft ein und reichte uns zwei Stück Kuchen.

In diesem Moment rannten uns mehrere Kinder um, die Saftbecher flogen auf den Verkaufsstand, wir selber konnten uns gerade noch festhalten. Eben noch überall Musik und Lachen, auf einmal nur noch Geschrei. Innerhalb einer Sekunde war die Stimmung gekippt, die Panik der Kinder griff auch auf die Erwachsenen über. Die Wege zwischen den kleinen Ständen waren viel zu eng für die Masse an Menschen, die plötzlich dort durch rannten. Alles was im Weg stand, wurde zur Seite gedrückt, die vielen Tapeziertische mit Spielzeug und Selbstgebackenem zerbrachen, durch die berstenden Saftflaschen wurde es sofort sehr rutschig. In ihrer Panik fielen die Leute hin, andere rannten darüber hinweg.

Im Gegensatz zu den meisten anderen wusste ich, dass unkontrolliertes Wegrennen meist keinen Sinn hat. Man nimmt seine Umgebung nicht mehr wahr, läuft vielleicht noch in die falsche Richtung. Bei den vielen Demonstrationen habe ich gelernt, ruhig zu bleiben, die Situation zu überblicken und erst dann zu reagieren. Nun aber sah ich die Kette der weißen Polizeihelme auf uns zu rennen, ihre Knüppel schlugen in alle Richtungen. Während die ersten nur noch ein paar Meter entfernt waren, blieb der größte Teil von ihnen stehen. Dort prügelten sie auf mehrere Leute ein, die am Boden lagen und sich, so gut es ging, mit ihren Armen vor den Schlägen schützten. Sie schrien um Hilfe. Wir standen direkt neben einem Gebüsch, und anstatt mit mir abzuhauen, bückte sich Tobi, holte sich einen Stein aus den Büschen und warf ihn aus der Drehung dem vordersten Bullen direkt an den Helm. Sofort rasten wir los, den anderen Flüchtenden hinterher. Nach ein paar Metern kamen wir an einem Kinderwagen vorbei, offenbar war die Mutter mit ihrem Baby schon weggerannt. Im Laufen zog ich den Wagen hinter uns her und warf ihn um. Wie erhofft stolperte der Prügelbulle, allerdings ohne richtig hinzufallen. Ein anderer sprang darüber hinweg und verfolgte uns weiter. Anscheinend wurde er aber zurückgepfiffen. Er drehte um und dann liefen sie zu ihrer Einheit zurück.

Damit war es aber noch nicht vorbei. Von hinten wurden nun Tränengasgranaten geschossen, und zwar großflächig auf den gesamten Platz. Während sich die Schläger zurückzogen, knallten von dahinter die Gewehre, die innerhalb einer Minute mindestens 20 Gaskartuschen abfeuerten. Der gesamte Lausitzer Platz, der kleine Park, der Spielplatz und die Kirche verschwanden in den Tränengasschwaden. Während des Angriffs waren viele Kinder in die Büsche geflüchtet, schreiend kamen sie nun raus und rieben sich die brennenden Augen. Eine Frau kam mit einer Seltersflasche angerannt und spülte mehreren Mädchen die Augen aus, alle nicht älter als neun oder zehn Jahre.
Manche hatten den Fehler begangen hatte, sich in Hauseingänge zu flüchten. Das hat die Polizei beobachtet. Ein Trupp stieß vor, riss die Türen auf und schoss ebenfalls Gas in die Hausflure. Natürlich strömt es dort auch in die Wohnungen, aber das war ihnen wohl egal. Für sie waren die Kreuzberger eh alles potenzielle Terroristen, da ist es nicht schade drum, wenn deren Wohnungen mit Tränengas verseucht wurden.

Auch Tobi und ich hatten die volle Ladung abbekommen und so brannten uns die Augen wie verrückt. Man musste sie möglichst zu lassen, was beim Wegrennen aber nachvollziehbare Probleme macht. Ich hatte Kontaktlinsen, die die Augen einige Minuten vor dem Gas schützen. So konnte ich uns beide in ein türkisches Café retten, in dem wir uns erstmal die Augen ausspülen konnten.

»Das mit dem Stein war nicht gerade die Idee des Jahrhunderts«, sagte ich zu meinem Freund.
»Wieso? Kloppe hätten wir doch sowieso bekommen. Außerdem hatte ich zum Nachdenken keine Zeit, wie du vielleicht bemerkt hast.«
Zwischen uns war plötzlich eine aggressive Stimmung.
»Kein Grund gleich auszuflippen, man! Was sollte ich denn machen? Stehen bleiben und mich zusammenschlagen lassen?«
Er hatte ja recht, wahrscheinlich hätte ich selber auch geworfen, wenn ich gerade ’nen Stein oder eine Flasche in der Hand gehabt hätte.
»Haste gehört, wie das gescheppert hat?« Wir lachten beide los.
»Kein Wunder, Hohlköpfe sind ein prima Resonanzkörper. Das ist wie bei ’ner Glocke.«
»Gong. Gong«. Ich konnte mich plötzlich vor Lachen kaum noch halten.
»Schade, dass er sich nicht richtig auf’s Maul gelegt hat.«

»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Tobi.
»Na, was glaubst du denn? Nach der Aktion knallt es doch wie noch nie.«
Ich sollte recht behalten. Innerhalb einer Stunde entwickelte sich eine Straßenschlacht, wie es sie in Berlin wohl seit 1945 nicht mehr gegeben hat. Hunderte von Menschen griffen die Polizei an, mit Steinen und Knüppeln gingen sie auf sie los.

Wir trieben sie in ihre Mannschaftswagen, nach der Zerschlagung des Festes war die Stimmung unter den Leuten voller Hass. Immer weiter jagten wir die Bullen vor uns her. Manche von denen rannten den bereits flüchtenden Mannschaftswagen hinterher, schafften es gerade noch reinzuspringen. Dann flogen die ersten Mollies an die Wannen, zwei, drei Meter hoch schlugen die Flammen. Zwar wurden jetzt noch Wasserwerfer herangekarrt, aber es nutzte nichts mehr. Was nun folgte war Anarchie pur. Vom Lauseplatz bis zum Kottbusser Tor und dem Moritzplatz, überall wurden jetzt Barrikaden gebaut, eine Strecke von etwa einem Kilometer. Autos, die am Straßenrand geparkt waren, wurden quergestellt. Wir zogen Bauwagen auf die Straßen, warfen sie um und zündeten sie an. Aus allen Hinterhöfen und Baustellen wurde nun Material für den Barrikadenbau herangeschleppt. Mülltonnen, Holzbalken, Zementmischer, Gitter, alte Möbel, auseinander gerissene Baugerüste, Reklametafeln. Auf jeder Kreuzung bauten die Leute meterhohe Barrieren. Und das waren längst nicht nur wir Hausbesetzer, sondern viele andere Kreuzberger, die von der Polizei die Schnauze voll hatten. Viele Kinder und Jugendliche waren dabei, Studenten, Türken und Deutsche, Junge und Alte, Arme, Arbeiter, Angestellte, Alle. Es war ein wirklicher Volksaufstand. Während sich die Polizei immer weiter aus dem Kiez zurückzog, übernahmen wir die Kontrolle.

»An dieses Straßenfest werden wir noch lange denken!« Tobi war begeistert, überschwänglich, und während rings um uns weiter Barrikaden gebaut wurden, tanzte er auf der Straße. Nach dem Schreck von vorhin waren wir jetzt total ausgelassen. Plötzlich waren wir stark und die Bullen die Hasen.

Das Zentrum des Riots war die Oranienstraße. Am Kotti tobten noch Kämpfe, während der Kiez selber schon »befreit« war. Wie auch sonst meistens hatten Tobi und ich unsere Tücher um den Hals, das war Mode in der Szene, aber auch ganz praktisch. Notfalls konnte man es sich einfach vor’s Gesicht ziehen, um nicht so schnell erkannt zu werden. Auf diese Weise zogen wir unter dem Hochhaus durch, das die Adalbertstraße überspannt, zum Kottbusser Tor. Der Kreisverkehr mit dem Hochbahnhof in zehn Metern Höhe, war voller Menschen. Die wenigsten von denen waren vermummt, wahrscheinlich war auch kaum jemand vorher schon mal an einer solchen Schlacht beteiligt gewesen.

Der gesamte Platz war eingenebelt vom Qualm der brennenden Barrikaden, die in Richtung Wassertorplatz errichtet wurden. Es war ein merkwürdiges Bild: Während Hunderte von Menschen Material für die Barriere anschleppten, die immer höher wuchs, sah man von dahinter nur noch die Spritze eines Wasserwerfers. Er gab sein bestes, aber das Feuer konnte er nicht mehr löschen.
Von unserer Seite flogen Steine, der halbe Gehweg war bereits auf dem Luftweg in Richtung Polizei befördert worden. Die revanchierte sich mit Tränengasgranaten, die im Dutzend auf uns abgeschossen wurden.

Mitten in der allgemeinen euphorischen Stimmung wurde Tobi plötzlich ganz still.
»Was ist los, hast du Angst?«
»Na ja, meinst du nicht, dass die gleich richtig zurückschlagen?«
Bevor ich antworten konnte, gab es ein paar Meter neben uns ein großes Geschrei. Drei Zivilbullen hatten sich jemanden gegriffen und versuchten nun, ihn auf die andere Seite zu bringen. Das konnte nicht gutgehen, denn der Weg war längst versperrt. Die Zivis waren so sehr mit ihrer Verhaftung beschäftigt, dass sie die Falle gar nicht bemerkt hatten, in der sie längst saßen. Von allen Seiten schlugen und traten Leute auf die drei Polizisten ein, die sich jetzt mit Tonfas zu verteidigen suchten.
»Warum lassen die Idioten den Typen nicht laufen? Sie haben doch gar keine Chance!«

Ein paar Leute versuchten, den Festgenommenen zu befreien, sie zerrten an ihm, während andere auf die Bullen einschlugen. Plötzlich zogen zwei von denen ihre Pistolen und zielten auf die Angreifer. In diesem Moment wurde der dritte von einem Stein am Kopf getroffen und fiel blutend zu Boden. Nun konnte sich der verhaftete Junge befreien und rannte sofort weg. Zu dritt bahnten sich die Zivis einen Weg durch die Meute, immer die Waffen im Anschlag, die Todesangst war ihnen deutlich anzusehen. Einem wurde noch die Jacke vom Körper gerissen, dann waren sie verschwunden.

»Wollt ihr hier nur rum stehen und glotzen, oder was?« Der Typ, der uns angesprochen hat, hielt eine Holzkiste in der Hand, in der ein Dutzend Flaschen standen, alle mit einem Stück Stoff als Pfropfen. »Feuer habt ihr ja hoffentlich selber.«
Er reichte mir eine Flasche, aber ich nahm sie nicht an. »Was soll ich damit? Ich will die Bullen vertreiben, nicht umbringen.«
Der Typ lachte arrogant und fragte Tobi: »Bist du auch so ein Weichei? Dann geht doch nach Hause zu Mami.«
Tobi fühlte sich in seinem Stolz verletzt und griff nach der Brandflasche.

»Du weißt aber schon, dass man den nach dem Anzünden wegwerfen muss, ja?« Der Typ war ein Arschloch, das war nicht zu übersehen, Außerdem ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass er auch ein Provokateur sein könnte, der erst Leute zu Aktionen animiert, um sie später verhaften zu lassen. Ohne groß nachzudenken, nahm ich Tobi den Molly aus der Hand, zog den Stoff heraus und reichte dem Typ die Flasche. Dabei war ich wohl etwas zu schnell, so dass ein großer Schluck Sprit heraus spritzte – genau auf die Jacke des Typen.
»Pass doch auf, du Idiot!«, brüllte er, »das ist Benzin. Willst du mich abfackeln?«
Er wurde total jähzornig und hätte er nicht noch die Kiste mit den Mollys in der Hand gehabt, wäre er vielleicht auch auf mich losgegangen.
»Man, reg dich nicht so auf, Alter!« Plötzlich war auch Tobi sauer. Er schrie den Typen an, dass er sich verpissen solle. In der Zwischenzeit waren die Leute um uns herum aufmerksam geworden. Einige nahmen dem Typen Flaschen aus der Kiste, um sie selber zu benutzen. Mir aber blieb er suspekt und so war ich froh, als er endlich weiterzog.

Mittlerweile wurde es langsam dunkel und erfahrungsgemäß werden Schlachten mit der Polizei dadurch noch angeheizt. So war es auch an diesem Abend. Jenseits der Barrikaden am Kottbusser Tor zogen sich die Wasserwerfer und Wannen zurück. Plötzlich war da kein Blaulicht mehr und kein Tränengas. Es war, als hätten wir gewonnen und die feindlichen Truppen waren geflüchtet. Ganz falsch war die Einschätzung nicht, wie wir später aus einem Mitschnitt des Polizeifunks erfahren haben. Die Wucht des Widerstands hatte die Polizei einfach überrascht, zudem gab es unter ihnen  auch viele Verletzte.

Hinter dem Heinrichplatz war was los, das sahen wir bis hierher. Im Hindernislauf um die kleinen und größeren Brände herum kamen wir zum Görli.
Der Name Görlitzer Bahnhof ist eigentlich falsch, denn er bezieht sich auf einen Bahnhof, den es gar nicht mehr gibt. Er lag zwischen der Wiener und der Görlitzer Straße, also einige hundert Meter weiter östlich, aber durch den Mauerbau war er vom Streckennetz abgeschnitten. Jetzt war er einfach nur Brachland, das mal zum einem Park mit Schwimmbad werden sollte.
Am Hochbahnhof Görlitzer stand auf ’nem Eckgrundstück ein weiß verkleidetes, zweistöckiges Gebäude ohne Fenster. Der große Supermarkt von Bolle, eine wichtige Einkaufsquelle für die Bevölkerung. Und der wurde gerade geplündert.
»Kuck mal, Bolle hat heute geöffnet«, grinste Tobi mich an.
»Dann mal nichts wie hin.«

Es war ein überwältigendes Bild. Die Schaufenster waren zerbrochen, die Glastür existrierte nicht mehr. Im Innern sahen wir mindestens hundert Leute. Manche hatten gleich die Einkaufswagen vollgepackt und schoben sie nach Hause. Die meisten hatten irgendwas in den Händen, Würste, Obst, Büchsen, irgendwelche Kartons mit Lebensmitteln. Doch nicht das war das Aufregende, sondern die Leute selbst. Kaum jemand war ein typischer »Szene«-Mensch, sondern es waren die normalen Nachbarn, die dort plünderten. Viele Kinder und Jugendliche, klar. Aber auch Männer Typ Familienvater, alte Rentner mit Einkaufswägelchen, ganze türkische Familien. Der Alkohol und die Zigaretten waren schon weg, als wir in den Supermarkt kamen. Überhaupt war alles Teure längst »ausverkauft«, Käse und Fleisch können sich viele hier ja kaum leisten. Ein Pärchen, beide um die Fünfzig, schlenderte am Marmeladenregal entlang. Man sah ihnen an, wie sehr sie es genossen, endlich mal nicht auf den Preis schauen zu müssen. Ein paar Kinder legten Milchtüten auf den Boden und sprangen drauf, damit sie platzen und den Inhalt umherspritzen. Ihr Vater kam und brüllte sie an, dass sie lieber mal was Sinnvolles machen sollten: »Helft Mutti beim Tragen!«
Es war schon eine komische Situation, diese Alltäglichkeit mitten in dieser totalen Anarchie.
»Weißte was wir jetzt machen,?« Tobi strahlte plötzlich wie ein Atomkraftwerk. »Wir holen jetzt auch was. Für Martha.«
»Ja, coole Idee. Ach, die wird sich freuen!«

Martha hieß mit Nachnamen Pfahl, was ihr im Leben sicher viel Spott eingetragen hat. Jetzt war sie über 80 Jahre alt und lebte in einer kleinen Einraum-Wohnung im Hinterhaus der Oranienstraße 169. Wir kannten sie, weil wir ihre Nebenwohnung mal besetzt hatten. Martha war sehr offen und kam gleich mal rüber zum Kucken und brachte sogar Kekse. Tobi und ich besuchten sie seitdem alle paar Wochen mal, wenn es sich gerade ergab. Leider hatte Martha aber einen Sohn, den man nur als böse bezeichnen kann. Er war Mitte Fünfzig, BVG-Busfahrer und quälte seine Mutter oft. Wenn er zu Besuch war, musste sie ihm immer was zum Essen machen, obwohl sie sehr arm war. Aber mitgebracht hat er ihr nie etwas.

Bei Bolle am Görlitzer war nun aber nichts mehr zu holen. Wir gingen stattdessen wieder zurück in die Oranienstraße bis zum O-Platz. Hier gab es auch noch einen Supermarkt und vielleicht kamen wir da ja noch rein.
Tatsächlich wurde der Plus-Markt gerade aufgebrochen. Der Eingang direkt an der Ecke des ehemaligen Kaufhauses war mit einem Metallrollo gesichert. Normalerweise reicht das, Einbrecher wollen ja leise in den Laden kommen. Diesmal aber mussten wir uns um die Lautstärke keine Sorgen machen. Das nächste Blaulicht war erst etwa 500 Meter weiter zu sehen, noch hinter dem Moritzplatz. Wahrscheinlich wurde dort der Straßenverkehr in des Kiez gesperrt.

Anders als der große Bolle-Markt gab es hier keine Scheiben. Die waren längst gegen Holzplatten ausgetauscht, weil sie zu oft eingeworfen wurden. Und so war es im Supermarkt fast dunkel. Da wir in der Gegend wohnten, kannten wir den Markt ganz gut und konnten uns darin einigermaßen orientieren. Unser Ziel war die Wurst- und Käsetheke, und auch beim Fleisch bedienten wir uns reichlich. Vor der Kasse war das Regal mit dem Alkohol und so besorgten wir auch noch eine Flasche Likör. So voll bepackt zogen wir die hundert Meter zu Marthas Haus. Die Haustür war wie immer offen und auf dem dunklen Hof sahen wir, dass hinter Marthas Fenster noch Licht brannte.
»Wer ist denn da?« Ihre Stimme klang ängstlich, nachdem wir an der Wohnungstür geklopft hatten.
»Tobi und ich. Hey Martha, wir haben hier ein paar Geschenke für dich!«
Sie öffnete und schaute uns aus ihrem Morgenmantel ungläubig an. »Um diese Zeit seid ihr noch unterwegs, Kinder? Na, kommt erstmal rein.«
Sofort bot sie uns wieder was an, aber diesmal waren wir an der Reihe.
»Schau mal, was wir dir hier mitgebracht haben.«

Wir breiteten alles auf ihrem Tisch aus: Jeweils ungefähr ein Kilo Wurst und Käse, ein paar Schnitzel und Koteletts. Tobi zog sogar ein paar Schachteln Zigaretten aus der Hosentasche, die hatte er beim Rausgehen noch eingesteckt. Außerdem Kekse und Schokolade.
»Alles für dich, Martha. Nachträglich zum Geburtstag.«
»Aber ich habe doch erst im Oktober Geburtstag. Habt ihr das etwa gestohlen?«
Tobi setzte seinen allerliebstes Schwiegersohnlächeln auf: »Ne, Martha. Heute kriegen wir alle hier im Kiez endlich mal was geschenkt. Ist das nicht toll? Mach dir mal keene Gedanken, diesmal bezahlen die Reichen.«

Martha blieb skeptisch und kochte uns erstmal einen Tee. Sie hatte hier hinten gar nichts mitgekriegt und so erzählten wir ihr, was alles passiert war. Vom Straßenfest, vom Tränengas, von der Gegenwehr und schließlich von den Plünderungen. Immer wieder fuhr sie erschrocken zusammen. »Oh Gott, ist das denn nicht gefährlich? Passt bloß auf euch auf, meine lieben Jungs!«
Sie hatte etwas sehr mütterliches, es war schön, dass sie sich um uns sorgte. Beruhigend, als wenn uns dann nichts mehr passieren könnte.

Mittlerweile war Mitternacht durch und noch immer saßen wir auf Marthas alter Couch. Vom dritten Stock aus schaute man ein Stückchen hoch zum Dach des Vorderhauses. Vor dem halbdunklen Himmel sah ich, wie mehrere Personen geduckt über’s Dach schlichen. Mehr aber konnte ich nicht erkennen. Ein paar Minuten später plötzlich Geschrei: »Bleib stehen, du Schwein!«.
Tobi rannte zum Fenster, ich löschte erstmal das Licht. Wir sahen, wie ein paar Gestalten mit weißen Helmen über das Dach liefen. Sie waren langsam, weil sie auf der Spitze des Schrägdachs gingen, dort gab es nur schmale Bretter für den Schornsteinfeger. Offenbar suchten sie jemanden.
Und wir sahen ihn: Fest an die Dachziegel gepresst stand er etwa vier Meter unter den Polizisten in der Regenrinne. Mein Herz begann Amok zu laufen, immerhin ist das hier ein altes Haus und ziemlich heruntergekommen. Dass ausgerechnet die Regenrinne  stabil sein sollte, glaubte ich nicht. Es vergingen ein paar Sekunden, bis Tobi reagierte. »Wir müssen ihm helfen! Lass uns nach vorn gehen, vieleicht können wir was tun.«

Wir wussten, dass die Dachböden miteinander verbunden sind. Also kletterten wir nach oben und öffneten im Vorderhaus ein Dachfenster. Es war circa einen halben Meter über dem Mann, für ihn also unerreichbar. Wir machten eine Räuberleiter, ich kletterte zur Hälfte aus dem Fenster und beugte mich nach unten.
»Komm, halt dich fest, ich zieh dich hoch!«
So leicht war das aber nicht. Wer schon mal 70 Kilo mit einer Hand heben wollte und dabei kopfüber aus einem schrägen Dachfenster gehangen hat, weiß, was ich meine.

»Ey Leute, ihr habt mir echt das Leben gerettet. Diese scheiß Rinne hat mich kaum gehalten.«
»Was suchst du dir auch so einen blöden Weg aus zum Spazierengehen.«
Tobi übertraf sich mit seiner Komik wieder mal selbst.
Der da vor uns stand war kaum älter als wir. Mitte zwanzig, komplett schwarze Klamotten und um den Hals ein schwarzweißes Pallituch. Diese »PLO-Tücher« waren sehr praktisch, man konnte seinen Kopf darin komplett verhüllen.
Der missglückte Straßenkämpfer erzählte, dass er vom Dach Steine und Ziegeln auf die Polizei geworfen hatte.

»Bist du bekloppt?«, brüllte Tobi ihn an. »Damit kannst du doch jemanden töten!«
»Na und, es sind doch nur Bullen man, keine Gnade.«
Auch ich wurde total wütend. »Hast du keine Achtung vor dem Leben anderer Menschen? Was bist du – ein Nazi?«
Der Typ schrie, dass wir wohl wohl blöde Okös seien und am besten nach Hause zu Mami gehen sollen.
Tobi hatte vor Wut einen hochroten Kopf, noch nie vorher hatte ich ihn so sauer gesehen.
»Wir hätten dich fallen lassen sollen, du Arsch!«
»Auf welcher Seite steht ihr eigentlich?«, fragte der Typ und versuchte, dabei ganz lässig auszusehen. Aber er war noch immer sehr blass, soweit man das in dem schummrigen Dachboden erkennen konnte.
Tobi und ich waren sehr erschüttert über die Menschenverachtung dieses Typen. Mit solchen wollten wir nichts zu tun haben. Hatten wir aber, jedenfalls an diesem Abend. Wütend verließen wir alle den Dachboden.

Ganz kurz schauten wir noch bei Martha rein und verabschiedeten uns.
»Wir kommen morgen nochmal vorbei und erzählen dir dann, was heute noch war.«
»Oh Gott, oh Gott, passt auf euch auf, Kinder!« Sie tat mir leid, weil sie wirklich um uns besorgt war. Gleichzeitig wollte ich aber raus und nachschauen, was noch passierte. Aber wir kamen nicht weit.

Kaum standen wir auf der Oranienstraße, rannte von rechts ein Rudel Bullen auf uns zu. Sie hatten keine Schilde dabei und wir wussten, was das bedeutet: Diese Gruppe gehörte zum SEK. Das Sondereinsatzkommando ist dafür da, in Situationen einzugreifen, die für normale Polizisten zu gefährlich sind. Zum Beispiel bei Banküberfällen oder Geiselnahmen. Diese Bullen ließen sich mit ein paar Steinen nicht aufhalten, als Selbstschutz reichte der Helm. In den Händen hatten sie statt Schilden und Knüppel kleine schwarze Tonfas. Das sind Holzknüppel mit einem Quergriff, mit dem man nicht nur einfach zuschlagen kann. Wer damit umgehen kann, wirbelt ihn durch die Luft oder sticht auf kurze Distanz mit dem stumpfen Ende auf einen ein. Später erfuhr ich, dass sie in dieser Nacht jemanden genau so ein Auge ausgeschlagen haben.

Wenn ein Dutzend solcher Leute auf einen zu rennt, hilft nicht viel. Kämpfen ist sinnlos, aber verprügeln lassen wollten wir uns auch nicht. Von der anderen Seite sahen wir Blaulicht, dieser Weg war also eh versperrt.
»Das Lager!«, rief Tobi und rannte zwei Häuser weiter auf den Hinterhof. Erst in diesem Moment dachte ich an die versteckten Molotow-Cocktails auf dem Hof der 167. Wir wussten, dass es dort unter einer Metallplatte versteckt ein kleines »Waffenlager« gab. Es war nicht das einzige im Kiez, eine ganze Reihe von Höfen, leer stehenden Wohnungen, Kellern und Dachböden waren so präpariert. Mollies, Steine, Zwillen mit Stahlmuttern waren so breitflächig versteckt, genau für solche Situationen. Manche, wie das Lager im Hof der Oranien 167, lagen sogar taktisch sehr gut, was jetzt ein riesen Glück für uns war.

Wir rannten durch das dunkle Vorderhaus auf den Hof, uns war klar, dass wir nur ein paar Sekunden Vorsprung haben.
»Wo ist diese scheiß Platte?«, zischte Tobi.
»Man, direkt neben der Kellertreppe!«
In diesem Moment sahen wir schon, wie vorn die Haustür auf ging, die ersten weißen Helme waren zu sehen. Die Polizisten rannten aber nicht ins Dunkel, sondern tasteten sich vorsichtig zur Hintertür. Sie hatten wohl schon ihre Erfahrungen gemacht und sind vielleicht mal in einer Falle gelandet. Manchmal werden kleine Grüppchen von Polizisten in Höfe oder in ein Haus gelockt und dann von allen Seiten mit Steinen und Knüppeln angegriffen.

Die Sekunden der Vorsicht gaben uns die Zeit, die dicke Blechplatte zur Seite zu heben. Darunter kamen etwa ein Dutzend Mollies zum Vorschein, die allerdings noch nicht »scharf« waren. Man musste den um den Flaschenhals geknoteten Stoff ja erstmal in Benzin tränken. Das sollte vorsichtig und langsam geschehen, damit das Benzin nicht über die ganze Flasche läuft. Sonst brennt die nämlich beim Anzünden gleich mit. Aber diese Zeit hatten wir jetzt nicht.

Jeder von uns nahm sich zwei Mollies und wir rannten ein paar Meter nach hinten. Hier war eine zwei Meter hohe Mauer, hinter der ein weiterer Hof lag. Über den konnte man quer durch den Block rennen und kam dann in der Dresdner Straße raus. Das hatten wir vor. Aber als wir nach hinten zur Mauer rannten, kamen die ersten Bullen auf den Hof und brüllten gleich: »Hier sind sie!«
Tobi sprang ohne sich festzuhalten auf eine der Mülltonnen, die an der Mauer standen. Dabei fiel ihm eine Flasche aus der Hand und sie zerbrach am Boden. Ich bückte mich und tunkte den Stoff meiner beiden Mollies in die Benzinpfütze. Tobi war schon auf die Mauer geklettert, da rannten die Polizisten von hinten auf mich los.

»Fang!«, schrie ich Tobi an und warf beide Flaschen zu ihm hoch. Diesmal hatte er mehr Glück und beide Mollies blieben heil. Ich kletterte die Mülltonne hoch, während er mit seinem Feuerzeug die Lunte von einem der Brandsätze anzündete. Gerade als ich mich auf die Mauerkrone hoch zog, erreichte mich der erste Bulle und hielt mich am Bein fest. Ich sah zu Tobi und schrie: »Schmeiß doch, man!« und er warf den Brandsatz auf den Boden. Eine Sekunde später stand unter mir alles in Flammen. Der Mollie entzündete auch das Benzin der vorher zerbrochenen Flasche. Die Flammen loderten sofort einen halben Meter hoch. Ich merkte, wie der Polizist mein Bein los ließ und in die andere Richtung rannte. Bloß weg aus dem Feuer! Die anderen blieben stehen, einer trat an der brenndenden Hose des Bullen die Flammen aus. Dann ließ sich Tobi auch schon auf der anderen Seite der Mauer runter.

Ich sprang hinterher. Wir rannten über den Hof, wollten durch’s Hinterhaus nach vorn flüchten. Kaum öffneten wir die Tür, sahen wir einen bulligen Kerl vor uns. Irgendein Bewohner von der Sorte »Müllkutscher«, diejenigen, die Volkes Stimme auch mal mit der Faust Nachdruck verleihen. Er griff sich Tobi und hielt ihn am Kragen fest. Mit der anderen Hand versuchte er, mich zu packen. Ich nahm Tobi den Mollie aus der Hand und schlug ihn dem Bär auf den Kopf. Die Kopfhaut riss auf und der Mann brüllte wie wahnsinnig, sicher auch, weil das Benzin in die Wunden kam. Aber wenigstens ließ er Tobi los.

In diesem Moment sah ich, wie zwei der Bullen über die Mauer stiegen und auf uns losrannten.
»Gib Feuer!«, schrie ich und Tobi warf unseren letzten Mollie in den Durchgang zum Hof.
Hinter den Polizisten dann der brennende Eingang, im Flur der hilflos schreiende Mülltyp, man kann nicht sagen, dass wir besonders unauffällig waren. Aber wenigstens verfolgten uns die beiden Bullen nicht mehr.
Nach einem kurzen Sprint durch’s Vorderhaus öffneten wir leise die Tür zur Dresdener Straße 16 und lugten heraus. Hier waren keine Bullen, aber links und rechts sahen wir an den Häuserwänden blaue Lichter zucken. Offenbar war am Kotti und am O-Platz schon die Polizei und kurz darauf sahen wir dort auch mehrere Wannen sich langsam vortasten. Sie schoben die längst ausgebrannten Barrikaden zur Seite.

»Lass uns versuchen, nach Hause zu kommen. Genug für heute.« Ich nahm Tobis Vorschlag gerne an.
Aber so leicht war das mit dem Rückzug nicht. Denn zwischen uns und der Adalbertstraße stand jetzt der Feind. Also packten wir unsere Halstücher in die Hosentasche, setzten die harmlosesten Unschuldsmienen auf und machten uns auf einen weiten Umweg, rund um den Kiez, an der Mauer entlang bis zur Adalbertstraße.

Am nächstens Morgen spazierten wir durch den Kiez. Es sah aus wie im Kriegsgebiet. Fast alle Schaufenster waren eingeworfen, selbst die kleinen Läden aufgebrochen und geplündert. In den Türen standen vezweifelte Inhaber, manche weinten, andere waren wütend. Den meisten aber sah man ihre Ratlosigkeit an.
Am Straßenrand war genau zu erkennen, welche Autos schon in der Nacht dort gestanden haben. Sie waren entweder völlig zerbeult, mit eingeworfenen Scheiben oder sogar ausgebrannt.
»Ist dir klar, dass wir das waren?«, fragte ich Tobi. Mir ging es plötzlich dreckig, denn wir hatten ja die Polizei, den Staat, die Reichen als Ziel unserer Angriffe. Getroffen wurden aber fast nur die einfachen Leute.

»Das waren wir nicht, nur ein bisschen. Wir waren ja nur dabei.«
»Klar, alle waren nur dabei. Wie damals in der Reichskristallnacht.«
Tobi sah mich entsetzt an: »Bist du bescheuert? Was haben wir mit den Nazis zu tun?«
Mir war auf einmal wirklich zum Heulen. »Vielleicht mehr, als uns das klar ist.«
»Quatsch! Die Nazis haben Juden ermordet oder denen die Scheiben eingeschmissen, das ist doch was ganz anderes. Außerdem kämpfen wir nicht gegen ’ne Minderheit, sondern gegen Nazis!« Seine Argumente wurden immer verworrender.
»Sind die Faschos keine Minderheit mehr? Gehören die Läden hier etwa alle den Nazis?«

Das Schlimme an der Diskussion war ja, dass ich das alles kenne und eigentlich genauso rede.
»Wir haben noch nie mal so richtig darüber gesprochen, warum wir das machen und was wir erreichen wollen.«
»Na, ist doch klar: Widerstand!« Tobi begriff nicht, was ich meinte. Kein Wunder, ich stellte ja plötzlich auf einmal alles in Frage, was bisher anscheinend klar war. Doch der Anblick dieser Zerstörungen hat mir regelrecht die Augen geöffnet.
»Aber wenn wir keinen Unterschied mehr machen zwischen einer Nazikneipe und ’nem Klamottenladen…«

»Was hast du denn auf einmal?«, fiel mir Tobi ins Wort. »Wirst du jetzt ein Hippie oder was? Es war doch geil letzte Nacht, die Barrikaden und so. Wann erlebt man das schon mal?«
»Darum geht es doch gar nicht! Wir sind doch keine Hooligans, die sich nur wegen der Action prügeln, oder? Ich hab eigentlich schon ’nen politischen Anspruch.«
»Politischer Anspruch. Ja toll. Ich nicht, oder was? Ey, wir sind der Widerstand, kapierste das nicht? Der Kiez gehört uns, die Bullen sollen sich hier raushalten. Und die Hausbesitzer sollen sich verpissen. Ist das vielleicht nicht politisch?«
»Und was haben die kleinen Läden damit zu tun?« So eine Schaufensterscheibe kostet bestimmt tausend Mark. Daran kann so einer pleite gehen.«

Tobi sah aber jedes Argument als persönlichen Angriff, obwohl es ja gar nicht so gemeint war. Es ging ja auch gegen mich selbst und meine eigene Ignoranz. Ich merkte, dass plötzlich etwas zwischen uns stand. Wir hatten uns auch vorher manchmal gestritten, aber diesmal ging es tiefer. Wir sahen uns ja als politische Menschen, aber waren nicht in der Lage, auch so zu diskutieren. Vielleicht auch deshalb, weil nicht viel dahinter steckte. Waren wir nicht doch eher Hooligans?
Schweigend gingen wir die Oranienstraße weiter.

»Lass uns kurz bei Martha vorbeigehen«, schlug ich vor.
»Ne, keine Lust.« Tobi war immer noch sauer.
Also stieg ich allein die drei Stockwerke nach oben und klopfte. Es war aber nicht Martha, die mir öffnete, sondern ihr Sohn. Und der zog mich sofort in die Wohnung und schlug mir ins Gesicht.
»Da ist ja einer dieser Chaoten! Euch sollte man alle vergasen, wie damals!«, brüllte er und schlug wieder zu. Im Affekt trat ich ihm mit voller Wucht zwischen die Beine und offenbar hab ich gut getroffen. Winselnd ging er zu Boden.
Dann sah ich Martha, zusammengesunken auf ihrer Couch. Sie hatte wohl geweint und wischte sich gerade das Gesicht trocken. Ich beugte mich sofort zu ihr.
»Was ist denn los? Hat er dich geschlagen?«, wollte ich wissen.
»Nein«, schluchzte sie, „aber angeschrieen. Und alles weggeschmissen, was ihr mir gestern gebracht habt.“ Sie zeigte zum Mülleimer, wo der Käse und das Fleisch rausschauten. Ich nahm alles raus, machte es wieder sauber und legte es auf ihren Küchentisch.
Dann nahm ich mir ihr Nudelholz und ging zu ihrem Sohn.

»Wenn du nicht sofort die Wohnung verlässt, schlage ich dir den Schädel ein!«
Er schaute mich mit einem hassverzogenen Gesicht an, rutschte dann aber zur Wohnungstür. Aufstehen konnte er noch nicht. Als er draußen war, schloss ich die Tür und ging zu Martha. Sie war noch immer sehr aufgeregt.
»Wie kann eine so liebe Frau nur mit so ’nem bösen Jungen gestraft sein«, sagte ich. »Nimm’s mir nicht übel, aber das denke ich wirklich.«
»Ach Junge, du hast ja recht. Aber was soll ich denn machen? Manfred ist doch nun mal mein Sohn.«
Wir saßen dann noch über eine Stunde zusammen und redeten. Über ihr Leben, über den Sohn, über Tobi und mich. Ich erzählte ihr von meinem schlechten Gefühl, was die Plünderungen der kleinen Läden anging.

Als ich ging, drückte sie mich eng an sich. Es war das erste Mal. Und das letzte Mal, dass wir uns sahen. Als ich sie eine Woche später besuchen wollte, sagten die Nachbarn, dass Martha zwei Tage vorher gestürzt war. Sie hatten sie ins Urban-Krankenhaus gebracht, wo sie nach ein paar Stunden gestorben ist. Ich bin dann dort hin, wollte wissen, wo sie beerdigt wird. Aber man wusste es nicht. Ich habe es auch nicht mehr erfahren.

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