Deutschland, Deutschland, Deutschland

Einen solchen Titel muss man gleich erklären. Am 15. Januar 1909 starb der Schriftsteller – aber auch das Neuköllner Straßenschildchen sagt: „Dichter“; Dichter ist irgendwie was Feierlicheres – Ernst von Wildenbruch. Seines kranken Herzens letzter Schlag, weiß der berühmte Professor, der 1919 eine Ausgabe seiner Werke veranstaltete, rief in Grauen und Not, Liebe und Leiden, nie verklingend, in den eisgrauen Wintertag hinaus: siehe oben, dreimal.

Von der U-Bahn-Station Rathaus Neukölln habe ich nur ein kleines Stück durch die Erkstraße, bis ich beim „Polizeipräsidium“ – wie manche sagten, die darin vom deutschen, deutschen, deutschen Staate verprügelt worden waren – am Anfang der Wildenbruchstraße stehe. Ich weiß nicht im geringsten, warum ich seit langem den Wunsch habe, die Wildenbruchstraße von Anfang bis Ende zu gehen; bis jetzt bin ich nur ein paarmal durchgefahren und immer habe ich gedacht: die Straße hat was. Und während ich nun im platternden Regen unter den grünen, grünen Bäumen entlang gehe, frage ich mich wieder nach dem Warum dieser Sympathie.
Es kann doch nicht wegen Wildenbruch sein. Von seinen Werken, die nach Meinung des Professors angeblich „mitgedacht werden, wenn Deutschland gedacht“ wird, kenne ich beinahe nichts: „Wie ein Dieb in der Nacht / Kommt die Liebe ganz sacht. / Frage nicht, was sie will, / Lass sie tun, schweige still!“ Wildenbruch war Jurist wie ich, er ist 64 Jahre alt geworden, so alt, wie ich jetzt bin und älter vielleicht auch nicht werde – daher kann Zuneigung zu einer Straße mit seinem Namen nicht kommen.
Es ist eine beziehungsvolle Straße, beinahe kann man sagen: eine lehrreiche. Alsbald kommt rechts die schöne, hinter kleine Vorgärten zurückgezogene Wohnanlage mit den gliedernden Erkerbändern.

In Nummer 8 wohnte Kurt Exner, später in Westberlin lange Senator, 1933 war er der Vorsitzende der größten SPD-Abteilung in Neukölln (über 1400 Mitglieder): „Von Januar bis März 1933 klapperte in meiner Wohnung oft der Schlitz vom Briefkasten: Ehemalige Genossen steckten ihre Parteibücher durch.“ Zwei Häuser weiter praktizierte seit 1924 der jüdische Kassenarzt Günter Bodeck, wer wüsste noch etwas von ihm, wenn nicht das Bezirksamt an dem Haus eine – jetzt gerade in einem plötzlichen Sonnenstrahl glänzende – Erinnerungstafel angebracht hätte: Woran sollen wir uns erinnern, wenn die Namen keine Erinnerung mehr in uns wachrufen? Vielleicht: Dass dieses Deutschland, Deutschland, Deutschland ein Land der Verfolgung, der „Säuberung“ war, wodurch es sich furchtbar besudelt hat. Und woraus es gelernt haben sollte. Ach, Gott, ja, dafür reichen kleine Täfelchen aber nicht, die die Namen von Leuten hochhalten, die statt zu Hause in Neukölln plötzlich in Spanien tot umgefallen sind; da hatten sie noch Glück, dass es nicht ostwärts war in einer der deutschen, deutschen, deutschen Todesfabriken. „Europäisch denken – für Deutschland handeln“ steht auf den Plakaten der CDU für die Europawahl.

Gegenüber, an der Ecke zur Schandauer Straße, liegt das „Jägerheim“. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich die lebhafte Autostraße überquert habe. Ich will mir die Eckkneipe sorgfältig ansehen. Denn Elsa Winguth, die zu den „Leviten“ gehörte, den Anhängern von Paul Levi und erst natürlich von Rosa Luxemburg, hat gesagt: „Unterschwellig hielten alle zusammen. Auch das alte SPD-Lokal Ecke Schandauer Straße strömte weiterhin Einfluss aus. Aber wir waren eine andere Clique, nicht wie die SPD-Rechten.“ Ein trauriger Satz, mich stimmt er traurig, er teilt so viel Vergeblichkeit mit. „Sex ist geil“ steht an dem Postabstellkasten, an den ich gerade meinen Schirm gelehnt habe, weil mir die dichte Linde genug Schutz bietet. Mein Handy klingelt. Meine Lebensfreundin ruft mich an, um mir „Küsse zu schicken“, weil sie weiß, dass es mir schlecht geht, und um mir zu sagen, dass sie mich liebt. Nichts natürlich gegen Sex, aber, Leute, ich sage euch: geil ist vor allem Liebe!

Von der Schandauer Straße kann man sehr schön den Neubau des Abwasserpumpwerkes von 1926 sehen. Der Altbau ist von 1892/93 und das Wohnhaus, das zur Wildenbruchstraße vorgelagert ist und aussieht wie ein veronesisches Bürgerhaus, ist von 1912. Dort ist jetzt der Eingang zum zahnärztlichen Dienst des Bezirksamtes und zur Geschäftsstelle und dem Lokal der Guttempler, die die ehemaligen Maschinenhalle jetzt Guttemplerhaus nennen. Neukölln, das damals noch Rixdorf hieß, ist 1891 kanalisiert worden, noch bevor der Wiesengraben zum Neuköllner Schifffahrtskanal ausgebaut wurde. Der Baumeister, der als Helfer des großen James Ludolf Hobrecht die Arbeiten leitete, hieß Hermann Weigand. Nach ihm heißt die Uferstraße, die den landschaftlichen Wildenbruchplatz, der ein kleiner Volkspark ist, gegen das Wasser abgrenzt.

Ich lehne am steinernen Brückengeländer der Wildenbruchbrücke, denn es hat zu regnen aufgehört, und mache mir Gedanken: Wenn man diesen Wildenbruch, denke ich, diesen nach Form und Inhalt epigonalen Gestrigen, vergliche mit dem annähernd gleichaltrigen Weigand, diesem modernen Ingenieur, erfahrt man da etwas von der innerlichen Zweifelhaftigkeit, mit der das nun endende 20. Jahrhundert begann? Ein hochmodernes Abwassersystem für eine Weltstadt bauen, das heißt aber noch nicht, modern denken. Und überhaupt: diese Moderne, die bald auch hochmoderne Verbrennungsöfen für Menschen bauen konnte! „Jetzt ahnt mir, kommt eine Zeit, da es Unheil bedeuten wird für jeden, der mehr von Deutschland, als nur den Namen kennt.“ Auch von Wildenbruch.
Am anderen Ende endet die Wildenbruchstraße – das ist längst in Treptow, denn die Wildenbruchstraße war immer gesamtdeutsch – mit einem Kindergarten. Um die Ecke gehe ich, Diether Huhn, gerne in das kleine Café, das Hühnerbein heißt. Dort werde ich gut bedient, ehe ich mit dem 104er, der ein hoch lehrreicher Berlin-Bus ist, in 50 Minuten fast bis vor die Tür meiner Wohnung fahre, am oberen Kurfürstendamm. Berlin, Berlin, Berlin …

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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