Hansaviertel

Wir steigen auf dem Bahnhof Bellevue aus, der so schön zwischen Wasser und Park, zwischen Bundesinnenministerium und Bundespräsidialamt liegt, dass man sich einen angeneh­meren S-Bahnhofs-Standort gar nicht vorstellen kann.
Im Hansaviertel wohnen vorwiegend anspruchsvol­lere Leute, steht noch im Baedeker von 1913. Nach dem Krieg, den der deutsche Mutwille im Jahr darauf vom Zaune brach, war das exklusive Hansaviertel mit seinen geschlossenen Großstadtfassaden immerhin noch da, wenn auch manchem der Anspruchsvollen keine Ansprüche mehr zugebilligt wurden. Nach WK II war das Hansaviertel dagegen eine Ruinenstadt. Da waren von den Anspruchsvollen nur die Gespenster übriggeblieben. Mit den Erinnerungen beschäftigte man sich erstmal nicht. Als ob nicht nur die Menschen und ihre Gegenstände zerstört wären, sondern die Geschich­te selbst.

Hier entstand nun – den Anspruch erhob man tatsächlich Ende der 50er Jahre – das neue Hansaviertel als ein Beispiel für „die Stadt von morgen“. Das Beispiel ist jetzt 40 Jahre alt. An diesem sonnigen Montag-Nachmittag besichtigen wir es. Während wir, die Akademie der Künste links liegen lassend, an dem Haus vorübergehen, das als einer der 53 Architekten aus 13 Ländern, die hier gebaut haben, Max Taut errichtet hat, und eine rasche Müdigkeit meine Knie erreicht, beginnt sich mir die Frage, was die 40 vergan­genen Jahre mit dem neuen Hansaviertel gemacht haben, mit der Frage zu vermischen, was sie denn mit mir und meinen Ansprüchen gemacht haben.

1957 studierte ich Jura in Freiburg. Der Haupt­freund meiner Jugendjahre, der später der ultimative Geschichtsschreiber des Berliner Mietshauses gewor­den ist, hatte in Berlin angefangen, Architektur zu studieren. In den Semesterferien, zu Hause in Lübeck, versuchten wir zuerst noch die Bräuche aufrechtzuer­halten, mit denen wir uns in unseren letzten Schüler­jahren Stoffe erschlossen, von denen unsere Lehrer, die sich hinter Goethe versteckten, nichts wissen wollten und ein Fähnchen hochgehalten hatten, um die Windrichtung des Zeitgeistes zu erfahren. Dass die steinerne Stadt sich auflösen sollte in Parks und Parkanlagen, in denen die Wohnhäuser eigene kleine Gemeinschaften bilden sollten, ich weiß gar nicht mehr, ob diese Idee der „Stadt von morgen“ uns damals eigentlich überzeugte. Aber ich weiß noch, wie Johann Geist mir einzelne Häuser des neuen Hansaviertels – wohlgemerkt: im sozialen Wohnungs­bau errichtet! – in ihrer Eigenart und modernen Schönheit so lebhaft schilderte, dass ich mich jetzt noch an die Rangfolgen der Schönheit erinnere, die wir aufstellten. Das Haus von Alvar Aalto, dem Finnen, Klopstockstraße 30, 32, war das schönste. Es ist immer noch das schönste: der in der Mitte leicht eingeknickte Baukörper, die Fassade aus hellen Lecca-Platten, von dunklen Fugen horizontal geglie­dert, leuchtet. Als wir das feststellen, sitzen wir im Café Tiergarten, unten links in dem Hochhaus von Fritz Jaenecke und dem Schweden Sten Samuelson, neben dem Schönheitsstudio Nofretete, das seinem kleinen Pudel ein paar Haare rot gefärbt hat, und sehen den Spatzen zu.

Die Oma, die an einem der schönen Gartentische mit der Enkelin Eis isst, wird ärgerlich. Nachdem sie die Spatzen ausführlich gefüttert und ihnen befohlen hat: „So, nun ists genug, weg jetzt mit euch!“, tun die gefiederten Freunde nichts dergleichen. Nun fuchtelt sie mit dem dürren Arm nach ihnen, klatscht mit der Speisekarte auf den Tisch, aber die Spatzen wollen nicht lernen, dass das heißt: weg jetzt, wir haben genug von euch.
„Niedlich sind sie, aber lernfähig sind sie nicht“, sage ich unüberlegt.
„Aber wenn sie nun auf Befehl der Oma in Reih und Glied anträten und wenn sie sagt: Nun rechts um und weg … da hätten sie Lernfähigkeit bewiesen?“
„Dass ihm nicht mehr zu helfen war, das war ja klar“, sagt am Nebentisch die eine Alte zur anderen.
„Zumal er ja was mit’n Ohren hatte.“
„Jetzt seh ich ihn immer nur von weitem. Komm nie rechtzeitig ran.“
Die Bedienung ist sehr freundlich. Ich kann Ihnen empfehlen, an einem sonnigen Vormittag, an dem Sie nichts anderes zu tun haben, hier zu frühstücken und den Spatzen zuzusehen und den anderen Vögeln und die Bäume zu betrachten. Wir spazieren zu dem leicht konkav gebogenen 25-m-Hochhaus hinüber, das Walter Gropius, nach dem man eine ganze Epoche modernen Bauens benennen könnte, zur „Interbau“, Internationa­len Bauausstellung, beigesteuert hat, aus der das neue Hansaviertel hervorgegangen ist. Das Haus wirkt innen längst nicht so elegant wie von draußen. Mit den Wohnungsgrundrissen hat sich der große Gropius hier nicht viel Mühe gegeben. Nachdem wir an der abwei­senden Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche vorbei sind, eine Kirche mit demselben Namen stand hier auch im alten Hansaviertel und daneben der berühmte Biergar­ten Charlottenhof, machen wir auf dem Weg zum S-Bahnhof Tiergarten Halt an einer licht im dunklen Baumgrün liegenden Wiese, sitzen auf einer Bank unter einem Ahorn, vor uns blühen Prachtspieren und schwarzer Holunder; in der Mitte der sich sanft senken­den und wieder hebenden Wiese eine mächtige Eiche, an den Rändern Pappeln, Platanen. Ein junges Paar hat eine weite rote Decke ausgebreitet, der junge Mann übt Jonglieren, das Mädchen liest.
Nach einiger Zeit kommt eine ganze Familie, sie packt ihr Wohnzimmer aus, ein Grillfeuer wird ange­zündet.
„Das ist es doch, Herr Tucholsky,“ sagt meine Lebensfreundin, „was die Berliner immer haben wollen: Wohnung am Kudamm, vorne raus die Ostsee, hinten die Alpen!“
Vom neuen Hansaviertel kann man nicht mehr sagen als vom alten: Das Volk ist woanders; die neue Zeit hat die alte hier vollkommen überlagert, obwohl ich – oft vor die Fußspitzen blickend – manchmal meine, noch Reste der Backsteine zu erkennen, aus denen die Vergangenheit der Gegend gefertigt war.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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6 Kommentare

  1. Habs auch gerne gelesen. Auch weil er so vorzüglich schreibt, immer leicht zu lesen, dabei tiefgründig beschrieben.
    Ich finde auch die Idee an sich toll. Ist bestimmt nicht neu und gibt’s bestimmt tonenschwere Bücherberge davon, aber durch deinen Blog bin ich auf sowas gestossen. Irgendwann druck ich mir die Dinger aus (darf man aber bestimmt nicht, oder?) oder schreibs mir halt ab, und lauf das nach.
    Danke dafür!

  2. Na, da hab ich doch eine Überraschung für Dich, auch ohne Ausdruck: Falls du ein Smartphone hast, such mal nach berlinstreet. Dort findest Du eine App, über die Du bislang 500 Texte jeweils an ihrem Ort aufrufen kannst. U.a. auch die Spaziergänge. Ein paar Tage lang ist sie sogar noch kostenlos.
    :-)

  3. Jeht nüscht! Meine Krücke ist dafür leider zu alt bzw. unkompatibel geworden ;-)
    Block und Bleistift. So kann ich mir auch immer ne Tour legen.
    Gibt bestimmt einen Reiter, der die Spaziergänge alle versammelt, oder?

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