Mieterkrawalle in Berlin

Schon seit in Berlin Wohnungen vermietet werden, gibt es Proteste gegen zu hohe Mieten, schlechte Instandhaltung, gegen Ungeziefer, Schimmel, feuchte Wände und vielem mehr. Auch wenn die meisten Wohnungen heutzutage nicht mehr in solch erbärmlichem Zustand sind, gibt es noch immer Wohnungseigentümer, die zwar das Meistmögliche aus den Mietern heraus pressen wollen, aber so gut wie nichts in die Erhaltung oder Verbesserung der Häuser investieren.
Natürlich waren die Wohnungen im 19. Jahrhundert um vieles schlechter als heute. Aber so wie schon damals werden Mieter von vielen Eigentümern als Melkkühe angesehen oder die Häuser dienen als Spekulationsobjekte. Einer der ersten größeren Proteste dagegen gab es im Jahr 1872. Heute versteckt sich die Blumenstraße hinter den Zuckerbäckerbauten der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain. Früher aber war dies mal ein Vergnügungsviertel und eine arme Arbeitergegend. Es herrschte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Wohnungsnot, die Industrialisierung zog zigtausende Menschen in das aufstrebende Berlin, doch der Wohnungsbau blieb hinter dem Bedarf zurück, Mieter hatten keinerlei Rechte. Im Normalfall drängte sich eine Familie in einer Einraum-Wohnung, das waren oft sieben, acht Menschen. Eigene Toiletten gab es nicht.
Wer keine Wohnung fand, zimmerte sich in den Baulücken oder auf Höfen aus ein paar Brettern wenigstens einen Unterstand gegen den Regen. Vor dem Kottbusser Tor oder dem heutigen Strausberger Platz entstanden auf diese Weise großflächige Brettersiedlungen, Slums, wie man sie heute aus Indien oder Südamerika kennt.
Aber auch den Mietern ging es nicht besser. Praktisch jedes Jahr wurden die Mieten erhöht und wer sie nicht zahlen konnte, flog sofort raus. Oft behielten die Hauseigentümer als Ersatz für die ausstehende Miete noch den Hausrat. So passierte es täglich, dass ganze Familien von einem Tag auf den anderen ohne jegliche Habe obdachlos wurden.

So ähnlich geschah es auch am 25. Juli 1872 dem Tischler Ferdinand Hartstock aus der Blumenstraße 52. Ohne Vorwarnung kündigte ihm der Vermieter, weil der einen neuen Mieter hatte, der mehr zahlen konnte. Noch am selben Tag standen die Möbel der Familie Harstock auf dem Gehweg vor dem Haus. Dem Eigentümer war nicht klar, was er damit auslöste.
Jeder der Mieter in der Gegend wusste, was das zu bedeuten hatte. Diesmal war das Fass voll: Immer mehr Menschen versammelten sich vor dem Haus der raus geschmissenen Familie. Und auch Arbeiter aus den zahlreichen Friedrichshainer Fabriken kamen dazu, bis die Menge auf 2.000 Menschen angestiegen war. Sie riefen Parolen gegen den Mietwucher und protestierten gegen die Kündigung der verzweifelten Familie. Die Polizei rückte an und ließ durch die Feuerwehr die Möbel abtransportieren. Doch damit konnte sie die Lage nicht mehr beruhigen.
Immer mehr Bewohner aus der Gegend kamen dazu. Sie warfen die Scheiben der Wohnung des Vermieters ein, der im Nebenhaus wohnte, sie demonstrierten in den umliegenden Straßen und gegen Abend befanden sich um die 5.000 Menschen in der Blumenstraße. Als die Polizei mit Verstärkung eintraf, flogen aus den Kneipen Steine, die wenigen Dutzend Polizisten hatten kaum eine Chance. All der Frust der Armen wandelte sich nun in Gewalt. Mit Säbeln schlug die Polizei von Pferden aus auf die Aufrührer ein. Erst in der Nacht verebbten die Auseinandersetzungen. Doch damit war es nicht vorbei.

Am folgenden Tag wurde vom Magistrat der Stadt die Feuerwehr nach Friedrichshain beordert. Sie begann damit, die Barackensiedlungen abzureißen. Geplant war das schon länger, weil einige Tage später der Zar von Russland sowie der Kaiser von Wien nach Berlin kamen und sie sollten keine Slums zu Gesicht bekommen. Innerhalb weniger Stunden wurde die gesamte Barackenstadt südlich des heutigen Strausberger Platz zerstört, inklusive der wenigen Besitztümer der Bewohner. Das ließ die Wut der Bürger natürlich explodieren. Tausende verließen ihre Wohnungen oder die nahen Fabriken und sammelten sich rund um die Blumenstraße. Aus Rinnsteinen wurden Barrikaden errichtet, als mehrere hundert Polizisten eintrafen, empfing sie ein Regen von Steinen. Die Kämpfe gingen über Stunden und forderten zahlreiche Verletzte. Allerdings gab es nur 20 Festnahmen.
In der Nacht zum nächsten Tag ließ der Polizeipräsident Warnungen plakatieren, in denen er mit Waffengewalt drohte. Kaiser Wilhelm I. hatte zudem die Bereitstellung mehrerer Regimenter der preußischen Armee angeordnet, die notfalls mit scharfer Munition gegen die Protestierer vorgehen sollten.
Aufgrund der starken Repression verebbten die Blumenstraßenkrawalle, dafür gab es an diesem Tag in der Skalitzer Straße in Kreuzberg neuen Aufruhr. Auch dort war gerade eine Wohnung zwangsgeräumt worden.

Mitten in der Nacht überfiel dann die Polizei die verbliebenen Barackensiedlungen und trieb die Bewohner hinaus. Die Fabriken hatten geschlossen, so dass von dort keine Hilfe kommen konnte. Innerhalb von Stunden zerstörte die Feuerwehr die letzten Behausungen, mehrere hundert Familien wurden obdachlos.

Bericht vom Hausbesitzer Wiesecke über eine versuchte Räumung:

„Man rottete sich auf dem Hof in großen Haufen zusammen, insultirte meine Hausofficianten und wurde immer unverschämter und herausfordernder. Unter diesen Umständen mußte der Executor den Beistand der Wache fordern, und da diese nur aus vier Mann bestand, so verstärkte sie sich von der Hauptwache und aus der Artillerie-Caserne, so daß im kurzem 30 Mann und ein reitender Gendarm auf dem Hof erschien. Statt diesen Demonstrationen zu weichen, ging nun der Lärm erst recht los, man brüllte, pfiff und schrie, verhöhnte die Wache und insultirte mich, der ich stets zu vermitteln und zu begütigen suchte, nebst meiner Umgebung, bewarf uns mit Sand und drohte zu Steinwürfen zu schreiten.
Um den Sturm nicht sich weiter – vielleicht bis in die Stadt verbreiten zu lassen, indem schon mehrere gar nicht in diesen Häusern ansässige Menschen sich den Tumultanten beigesellt hatten, beschloß ich auf Anraten des Herrn Polizei-Commissarius von meinem früheren Vorhaben einstweilen ganz abzusehen. Ich ließ den bereits exmittierten Einwohnern die Schlüssel wieder zurückgeben.“

Die Krawalle in der Blumenstraße waren die ersten breiten Mieterproteste in Berlin, aber nicht die einzigen. Einige Jahre später begann eine Organisierung von Mietern und langsam erreichten sie die Einführung wenigstens minimaler Rechte.
Während des 1. Weltkriegs zogen zigtausende Menschen vom Land nach Berlin. Gleichzeitig kam der Wohnungsneubau fast völlig zum Erliegen, so dass eine erneute Wohnungsnot entstand, die sich noch durch die gesamte Weimarer Republik hinzog. Nach 1918 politisierten sich die Mieterorganisationen und standen oft in einer Reihe mit den vor allem linken Parteien. Zur Verhinderung von Zwangräumungen wurden von kommunistisch orientierten Gruppen sogar „Mieter-Verteidigungstrupps“ gegründet. Gleichzeitig begannen erste Mieterstreiks, bei denen ganze Wohnhäuser die Zahlung der Miete verweigerten. Im April 1921 waren in Berlin mehrere zehntausend Mieter im Streik, manche Quellen sprechen von über Hunderttausend.

Den nächsten Höhepunkt gab es Anfang der 1930er Jahre. Die übervollen Mietskasernen trieben die Menschen wieder auf die Straßen, bei den Moabiter Krawallen kam es 1932 zu tagelangen Straßenschlachten. Symbol für die Verelendung war Meyers Hof in der Weddinger Ackerstraße, eine Mietskaserne mit sechs Hinterhöfen und jeweils nur einer Toilette und einer Küche pro 35 Meter breiter Etage. In diesem Komplex lebten zeitweise bis zu 2.000 Menschen. Als der Eigentümer das Haus völlig verfallen ließ, traten sämtliche Mieter in den Streik, mit Ausnahme der drei dort lebenden Nazis.

Die „Welt am Abend“ schrieb am 6. Januar 1933 über einen Besuch in Meyers Hof:
„Die rissigen Fassaden der Hinterhäuser sind mit roten Schriften überzogen, an einer kahlen Mauer schreit der Satz: Wir wollen als Menschen leben!
Wir gehen in eine Wohnung. Ihr Inhaber, ein alter Mann, nimmt ein Glas und füllt es aus der Leitung: Es ist eine schwarzgraue, fast undurchsichtige, mit kleinen Sandkörnchen durchsetzte Flüssigkeit. In einer anderen Wohnung ist das Leitungswasser nicht schwarz, sondern gelb und milchig.
Wir gehen in die Wohnung von Frau Grou, die in einer winzigen Kammer unter der Erde haust: Das ist kein Wohnkeller mehr, denn das Fenster ist durch einen Pferdestall verdeckt, von den Wänden rinnen unaufhaltsam Wassertropfen, die die Farbe lösen und am Fußboden eine schmutzige Lache bilden. Unter dem Fensterbrett wächst dicker Schwamm, der nicht auszurotten ist.
Dann steigen wir die Treppe zum dritten Stockwerk. Über dem knapp 10 Quadratmeter großen Wohnloch befindet sich ein Klosett – die Decke hält nicht dicht, die Jauche näßt durch und tropft auf den Tisch der beiden Leute, die hier leben müssen.“

Überall in Berlin flackerten nun Mieterproteste auf und oft wurden schon die Versammlungen von der Polizei zerschlagen. So sind am 18. August 1932 fast alle Mieter der Lychener Straße 18 im Prenzlauer Berg verhaftet worden, als sie eine Mieterversammlung abhielten. Am nächsten Tag dasselbe mit 63 Verhaftungen in der Liebenwalder Straße 41 im Wedding. Doch das konnte nicht verhindern, dass am folgenden Tag 120 Familien im umgebauten Gefängnis am Molkenmarkt, der Wanzenburg, mit dem Streik begannen. Die Mieter der Köpenicker Str. 34/35 begannen am 1. September zu streiken und verwandelten das ganze Haus in eine einzige Kampfburg. Zum 1. November 1932 traten ganze Straßenzüge in den Mietstreik, z.B. die Kösliner Straße (Wedding) und die Fischerstraße (Mitte). Ende November griff die Bewegung auch auf die großen Neubausiedlungen der Wohnungsbau-Gesellschaften über. Hier vor allem mit der Forderung für weniger Miete. Bei einer Massenversammlung der „Gagfah“-Gesellschaft, an der 7.000 Mieter teilnahmen und einer Versammlung von 2.800 „Roland“-Mietern wurden massiv Forderungen nach niedrigerer Miete laut.
Wie sehr sich der Mieterstreik ausgeweitet hatte, ist nicht bekannt. Doch Ende Oktober 1932 waren allein in der Gegend um die Invalidenstraße 312 Häuser mit 14.615 Mietern im Streik. Anfang 1933 hatte die Streikbewegung ihren Höhepunkt, doch mit der Machtübergabe an die Nazis traten plötzlich ganz andere Verhältnisse in Kraft. Seitdem gab es auch keine Informationen zu Mietstreiks mehr. Vor dem Hintergrund des verzweifelten Versuchs, doch noch einen Generalstreik als letztes Mittel gegen den sich auf allen Ebenen und mit allen Mitteln durchzusetzenden Faschismus zu organisieren, ist das zu verstehen. Man kann aber davon ausgehen, dass der Terror der Nazis überall die Weiterführung des Streiks verhindert hat.

Nach dem Krieg herrschte in der ganzen Stadt Wohnungsnot. Da diese nicht von den Eigentümern künstlich erzeugt worden war, gab es wenig Proteste. Erst Ende der 1970er Jahre gab es wieder größere Mietrechts-Aktionen. Vor allem der mutwillige Leerstand mehrerer hundert Wohnhäusern in West-Berlin brachte die Bürger dazu, dagegen zu protestieren. 1980/81 wurden über 200 dieser Häuser besetzt.
Zwar gab es in Berlin noch nie so viel Mieterrechte wie heute, trotzdem werden noch immer Bewohner von Hauseigentümern schikaniert und erpresst. Das Zumauern von Fenstern belegter Wohnungen in der Moabiter Calvinstraße war ein besonders schwerer Fall, aber bis heute gibt es auch die alte Strategie, vermietete Häuser verfallen zu lassen, um sie dann als unbewohnbar einstufen zu lassen und abreißen zu können. Mieterrechte sind weiterhin keine Selbstverständlichkeit. Bis heute werden Mieter zwangsgeräumt und auf die Straße gesetzt, wenn sie ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können. Da hat sich in den vergangenen 150 Jahren nichts geändert. Und solange es auf der einen Seite Hausbesitzer und auf der anderen Seite Mieter gibt, werden sich die Bewohner gegen die Machenschaften der Eigentümer zur Wehr setzen müssen. Ob gerichtlich, mit Mietstreiks oder gar mit Gewalt, hängt auch immer auch vom Verhalten des Besitzers ab.

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3 Kommentare

  1. Moin, moin,
    das Thema Wohnen wird uns in den nächsten Jahren massiv beschäftigen. Die vielen Menschen, die zur Zeit zu uns kommen, waren in keiner Prognose erwartet worden, daher werden die feststehenden Planungen der nächsten Jahre nicht ausreichen, den erhöhten Bedarf zu decken.
    Zur absoluten Stärkung der Mieterschicht empfehle ich, macht die Genossenschaften stark oder gründet neue Wohnungsbaugenossenschaften. Da sind die Mieter keine Mieter sondern Nutzer und eigentlich gleichzeitig gemeinsam mit ihren Nachbarn Eigentümer der Genossenschaft. Allerdings gilt auch bei Genossenschaften, wer nicht zahlt fliegt raus. Vorher versuchen wir aber alles, um entweder die Miete anerkennen zu lassen oder wir schauen, wie wir mit preiswerterer Wohnung helfen können. Nennt sich in unserer Genossenschaft Sozialmanagement und ist selbstverständlicher Standard geworden. Ich kenne aber auch viele Kollegen aus anderen Städten, die ähnliches anbieten.
    Gruß Frank

  2. Volle Zustimmung zu Franks Kommentar. Auch wenn bei weitem nicht alle privaten Vermieter Arschlöcher sind, ist das Wohnen bei einer Genossenschaft in der Regel wesentlich stressfreier.
    Als ich den Artikel das erste Mal las, musste ich an den Film „Ein Mann will nach oben“ denken. Entstanden nach dem Roman von Hans Fallada. Spielt in Berlin ab 1909, Details bei Wiki und evtl. youtube.

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