Nicht nur einmal wurde Meyer’s Hof als „Stadt in der Stadt“ bezeichnet. Das liegt aber nicht nur an der Größe und Abgeschlossenheit nach außen hin, sondern auch an der Vielfalt, die dieser Wohnkomplex zu bieten hatte. Denn es gab nicht nur Wohnungen, sondern auch viel Gewerbe und zeitweise soziale und kulturelle Einrichtungen in diese Komplex.
Wieso überhaupt „Meyer’s Hof?“.
Der Name Meyer bezieht sich auf den Bauherrn dieser Gebäude. Jaques Meyer besaß in den 70-er Jahres des 19. Jahrhunderts eine Textilfabrik in der Köpenicker Straße 18-20, auf deren Gelände auch die Villa stand, in der er bis zum Bau von Meyer’s Hof wohnte. Am 30. Dezember 1871 wurde auf das Grundstück seiner Fabrik eine bis zum 1.1.1877 zurück zu zahlende Hypothek eingetragen. Dieses Geld wurde wahrscheinlich für den Bau von Meyer’s Hof benötigt.
1878 übernahm sein 27-jähriger Sohn Otto Meyer die Verwaltung und zog auch selbst dort hin, in das zweistöckige Verwaltungs-Gebäude auf dem 6. Hof. Otto Meyer verwaltete Meyer’s Hof bis zu seinem Tod 1920. Der Komplex war also immerhin 36 Jahre lang in Familienbesitz.
Das Wort „Hof“ wurde zur Zeit des Baus eigentlich eher für Gewerbebauten benutzt, erst später auch für Wohnkomplexe. Das zeigt, dass es in Meyer’s Hof von Anfang an üblich war, dass auch Gewerbetriebe angesiedelt wurden.
Am Anfang gab es 257 Wohnungen und 13 Gewerbetriebe, u.a. eine Bäckerei, eine Badeanstalt und mehrere Werkstätten. Die Bewohner des Vorderhauses setzten sich zusammen aus Ladenbesitzern, Kaufleuten, Angestellten und Beamten, wobei der Begriff „Kaufleute“ etwas irreführend ist. Darunter verstand man oft Handwerker, die ihre Produkte auch selber verkauften und das war in Meyer’s Hof vorwiegend der Fall. Im Laufe der 80-erJahre kamen auch noch Fabrikanten dazu, die im 4. oder 5. Hof (damit waren natürlich nicht die Höfe, sondern die entsprechenden Quergebäude gemeint) ihre Fabrik oder Werkstatt hatten. Einige der kleinen Handwerker mit eigener Werkstatt vergrößerten sich im Laufe der Zeit, sie wurden Fabrikanten und zogen dann auch ins Vorderhaus. In den Hinterhäusern lebten vor allem einfache Arbeiter und Angestellte, Arbeitslose und Witwen.
Der weitaus größte Teil der Wohnungen bestand nur aus Stube, Küche und einer kleinen Kammer. Das waren natürlich die in den Quergebäuden. Dabei waren die Wohnungen auch keine abgetrennten Einheiten, wie man es heute kennt, sondern auf jeder Etage gab es einen langen Flur, von denen die jeweiligen Zimmer abgingen. Man musste also, um z.B. von der Küche in die Stube zu gelangen, über den gemeinsamen Flur. Weil dieser aber in der Mitte des Gebäudes lag, war er immer duster.
Eine Toilette hatten die Mieter zu dieser Zeit in den Hinterhäusern noch nicht, diese gab es nur auf den Höfen. Und sie wurden auch nur zweimal täglich von einem zentralen Wasserspeicher auf dem Dachboden des 6. Gebäudes aus gespült. Lediglich im Vorderhaus und im Verwaltungs-Gebäude gab es eigene Toiletten. Erst viel später sind dann auch in den anderen Häusern Toiletten eingebaut worden, an den Treppenfluren, immer zwei für eine Etage. Eigene Wasserhähne gab es für die Mieter in den ersten Jahren auch nicht, man musste immer auf den Treppenflur zum gemeinsamen Wasserhahn.
Jaques und später auch Otto Meyer ließen die Häuser oft umbauen, vor allem, wenn ein Gewerbebetrieb einziehen oder sich vergrößern wollte. Dabei fällt auf, dass sie in den 36 Jahren, in denen sie selbst die Verwaltung besorgten, kein einziges Mal rechtzeitig einen Bauantrag bei der zuständigen Polizeibehörde stellten. Sämtliche Bauanträge für Dutzende von Umbauten wurden nachträglich gestellt und auch erst, wenn der betreffende Umbau von der Polizei entdeckt wurde oder von irgend jmandem verraten wurde. Offensichtlich lieferten sich die Meyers ein kleines Spielchen mit der Polizei.
Zu dieser Zeit war Meyer’s Hof immer eine Baustelle. Denn die von den Gewerbetreibenden gewünschten Umbauten wurden meist prompt erledigt. Und oft waren diese Vorreiter für Einrichtungen, die dann später auch die Wohnmieter bekamen. Zum Beispiel die Toiletten, Dampfheizungen, Gas und Strom. Die Betriebe erhielten auch eigene Dampfmaschinen, viel später sogar einen Aufzug. Aber auch in den Wohnungen wurden neue Wände gezogen, Durchbrüche gemacht, Räume zusammengelegt, andere getrennt. Für diese Zeit kann man sagen, dass auf die Wünsche der Mieter wirklich eingegangen wurde.
Über die Lebensverhältnisse der Mieter in den ersten dreieinhalb Jahrzehnten ist kaum etwas überliefert worden. Trotzdem aber noch soviel, dass man von einer relativ humanen Belegungszahl der Wohnungen ausgehen kann, auch wenn schon zur Zeit des Baus gerade im Wedding Wohnungsnot herrschte. Denn die vielen hier entstehenden Betriebe brauchten ja Arbeiter und diese wollten nicht nur arbeiten sondern auch wohnen. Anscheinend waren die Meyers nicht so unverfroren und geldgierig wie die folgenden Eigentümer, die Meyer’s Hof bis zum letzten Meter mit Menschen vollstopften, an denen sie dann verdienen konnten. Allerdings gab es in den erstenJahren auch Keller-Wohnungen, die erst Anfang der 30-er aufgelöst wurden (allerdings durch baupolizeiliche Verfügungen, nicht aufgrund humanitärer Anwandlungen des neuen Besitzers). Über Probleme in den Anfangsjahren berichtet ein Zeitungsartikel:
„Noch vor Bauvollendung wurde das Gebäude von wohnungssuchenden Mietern gestürmt und in Besitz genommen. Eine schlechte Mieterschaft nistete sich ein, und als der jetzige Besitzer im Jahre 1878 das Grundstück übernahm, war es in der kurzen Zeit völlig verwahrlost. Von der Mieterschaft, die der Besitzer Herr Otto Meyer jetzt antraf, gab er mir einige drastische Schilderungen. Miete zahlten überhaupt nur die wenigsten, und die sich nur auf das Nichtzahlen beschränkten, waren eigentlich noch die besseren Elemente. Einzelne gingen noch viel weiter. Einer der Mieter, von Beruf Töpfer, hatte die Kachelöfen seiner Wohnung abgerissen und verkauft. Ein anderer handelte mit Weihnachtsbäumen, er hatte den Fußboden seines Zimmers aufgebrochen und die Bretter zu Baumstützen und Unterlagen zersägt.
Der Besitzer nahm sich nunmehr vor, seinen Hausbesitz in die Höhe zu bringen, indem er nur solide Mieter herein nahm, aber zu billigen, nicht steigerbaren Mieten vermietete. Bald hatte sich eine seßhafte Mieterschaft eingefunden.
Die Geschichte dieser Hausverwaltung, des Niedergangs, des Verfalls, des Aufsteigens ist gewiß lehrreich. Es genügt, ein altes, gut verwaltetes Haus mit verwahrlosten Gebäuden zu vergleichen, um zu erkennen, wieviel hier von der Tätigkeit und der Arbeit – oder der Nichttätigkeit – des Hausbesitzers abhängt.“
1877 wurde das 59. Polizeirevier in Meyer’s Hof eingerichtet, dessen Leiter Thiele auch in dem Haus wohnte. 1884 veröffentlichte Julius Rodenberg die erste bekannte literarische Beschreibung von Meyer’s Hof:
„Endlich bietet sich mir auch in der Ackerstraße noch ein Anblick, welcher allein genügen würde, den ungeheuren Abstand zwischen Einst und Jetzt darzuthun, oder gewissermaßen in einem Bilde zu zeigen: Ich meine die Meyer’schen Familienhäuser, welche den Platz einnehmen, wo früher die Baracken des Voigtlandes gestanden haben. Auch damals gab es hier schon Familienhäuser. Aber wie es darn ausgesehen, das ist in dem Buche Bettina von Arnim beschrieben. Wenn man mit solchen Zuständen die gegenwärtigen Familienhäuser vergleicht, dann begreift man, welche Fortschritte wir seitdem gemacht haben. Colossal in ihrem Umfange, geben sie dem Verhältniß sichtbaren Ausdruck, in welchem mit sparsamster Ausnutzung des vorhandenen Raumes zugleich für das häusliche Wohlbefinden und die sanitäre Zukömmlichkeit großer, dicht zusammen wohnender Menschenmengen gesorgt werden kann. Diese Familienhäuser sind Mietshäuser mit etwa fünfhundert Einwohnern. Sie gleichen einer kleinen Stadt, wimmelnd von Menschen und mit jeder Art von Hantierung. Die Front des Hauptgebäudes, mit zwei mächtigen Portalen, flankiert die Ackerstraße; dahinter öffnen sich fünf Höfe, jeder mit zwei vierstöckigen Quergebäuden, durch welche ein gewölbter Durchgang führt, mit zwei Seiteneingängen für die Häuser selbst.
In den Höfen herrscht das Leben einer Straße: Kinder spielen fröhlich umher, Werkstätten von jeglicher Beschaffenheit sind in vollem Betrieb, und Frauen, welche Grünkram und Obst feilhalten, sitzen an den Ecken. Den Hintergrund des letzten Hofs bildet eine Badeanstalt mit einer großen Uhr, welche die Zeit in diesem Gebäudecomplex regelt, und vorn, am Straßenportal, hängt eine fast die ganze Wand bedeckendeTafel mit den Namen der Einwohner, daneben allerlei sonstigen Benachtigungen. Ich muß sagen, daß dies Alles einen guten Eindruck machte, wie ich bei Zwielicht die Höfe durchschritt, in welchen so viele Hunderte dicht zusammen leben und dennoch einander nicht im Wege sind. Die Luft in den angemessen geräumigen Höfen war nicht schlecht, und als ich sie verließ, fingen eben die Gaslaternen an, ihr reichliches Licht in denselben zu verbrennen.“ *

Polizeianzeige vom 14. Juni 1884: „Die tiefen Lichtschächte vor den Kellerfenstern auf dem Hofe entbehren jeglicher Abdeckung oder Umfriedung, so daß daraus Gefahr für Passanten des Hofe namentlich aber für spielende Kinder entstehen kann.“ Jaques Meyer wurde aufgefordert, die180 (!) bis zu 1,5 m tiefen Lichtschächte der Kellerwohnungen innerhalb von 14 Tagen vergittern zu lassen.
Polizeianzeige vom 10. Juli 1891: „Spülung der Closetts befreffend. Auf dem Grundstück befinden sich 4 Closettgebäude, welche zwar an die städtische Kanalisation angeschlossen sind, jedoch der Einzelspülung entbehren; vielmehr haben sämtliche Closetts eines Gebäudes eine gemeinschaftliche Spülung, welche von dem Verwalter des Grundstücks jeden Tag angeblich 2-3 mal vorgenommen wird.
Meyer hat im hinteren Teil des Grundstücks ein Wasserreservoir angebracht, von welchem der Wasserbedarf nach den Wohnungen, wie auch zu den Closetts geleitet wird. Wenngleich die besagte Einrichtung in sanitätspolizeilicher Beziehung zu klagen noch keine Veranlassung gegeben hat, so stellt das Revier doch gehorsamst anheim, ob nicht auf Grund der bestehenden Bestimmungen die Einzelspülung der Closetts zu verlangen sein dürfte.“
Doch der Antrag scheiterte, da die Verordnungen lediglich das Vorhandensein von Toiletten regelte, nicht aber die Art der Toiletten.

Anonyme Postkarte an das Polizeirevier (mittlerweile am Gartenplatz 4) vom 28. Juni 1893: „Ersuche sie freundlichst, den Kaufmann Jintze, wohnhaft hier, anordnen zu wollen seinem Comis eine andere Schlafstelle anweisen zu lassen. Da die betreffende Schlafstelle ein Hängeboden der kaum 4 Fuß hoch ist und auch kein genügendes Fenster zu lüften vorhanden ist.“
Polizeianzeige vom 2. September 1894: „Am 31. August hat der Eigentümer Meyer auf seinem Grundstück, 2. Hof paterre, zwei Fachwerkwände gänzlich entfernen und in zwei massive Scheidewände Türlöcher einreißen lassen. Zweck der ohne baupolizeiliche Genehmigung ausgeführten Arbeiten ist die Herstellung zusammen hängender Räumlichkeiten zur Unterbringung einer Kochschule für Mädchen der arbeitenden Classen.“
Beschwerde von zehn Mietern des 5. Quergebäudes vom 17. Mai 1895: „In dem vorstehend erwähnten Quergebäude hat der Buchdrucker W. Manteuffel einen Gasmotor aufstellen lassen, welcher von morgens bis nachmittags 4 Uhr im Betriebe. Hierdurch sind unerträgliche Zustände eingetreten. Nicht allein, daß alles in den Wohnungen stets hin und her schwankt, Winde und Decken haben derartige Risse bekommen, daß der Putz davon abfällt und selbige einzustürzen drohen. Der Zustand ist geradezu lebensgefährlich und seitens des Eigenthümers des Grundstücks eine Abhüfle nicht zu erwarten.“
Die Besichtigung durch die Bauinspektion ergab, dass der Gasmotor falsch eingestellt war und es deswegen zu den starken Schwingungen kam. Nach der Reparatur war Ruhe.
1897 wurden in den fünf Quergebäuden insgesamt 51 Toiletten eingebaut. Das entspricht einem WC pro Aufgang und Etage. Danach sind die Toiletten-Anlagen auf den Höfen abgerissen und stattdessen dort Verkaufsstände (1. und 2. Hof) und Pferdeställe (3.-5. Hof) aufgebaut worden.
Am 28. Oktober 1904 gab Otto Meyer bekannt, dass das Grundstück Tag und Nacht bewacht wird und die ganze Nacht hindurch beleuchtet war. Ein Privatwächter musste nachts jede halbe Stunde seine Runde drehen. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Verhältnisse in Meyer’s Hof zu dieser Zeit einigermaßen geordnet verliefen.
Von 1874 bis 1910 gab es Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Gewerbebetriebe in Meyer’s Hof. Meist waren dies aber keine Firmen, sondern nur einzelne Menschen, die in ihrer Wohnung etwas herstellten oder verarbeiteten. Neben vielen „üblichen“ Betrieben waren in Meyer’s Hof auch folgende zu finden: Fünf Cigarrenmacher, eine Grünkramhandlung, die 13. Volksküche, eine Bildhauerwerkstatt, drei Mostrichfabriken, das Vereinslokal der Methodisten-Gemeinde, eine Nudelfabrik, die „Erste Berliner Wäschenäherei“, eine Knopf-Fabrik, ein Bierverlag, ein Depot der Straßenreinigung, eine Filzplattenfabrik, eine Honigkuchen-Fabrik, eine Pantoffelfabrik, eine Cylinderputzer-Fabrik, eine Reisekoffer-Fabrik, eine Bindfadenhandlung, eine Kesselschmiede, eine Glasbuchstaben-Fabrik, eine Schirmstockfabrik, drei Sackhandlungen, eine Haarnadelfabrik, eine Kochschule des Zweigvereins des Vaterländischen Frauenvereins, eine Papiertüten-Handlung, eine Waschanstalt, eine Cartonfabrik, eine Bürstenhölzer-Fabrik, eine Perlmuttschleiferei, eine Kammfabrik, eine Badeanstalt, eine Gänsehandlung, ein Instrumentenmacher, eine Ladenkassenfabrik, eine Eierkognak-Fabrik, ein Metallfaden-Lampenwerk, eine Milchverdampfung, eine Blumendünger-Fabrik, eine Hutfabrik und schließlich eine Sarghandlung…

* Aus den drei Bänden „Das Berliner Mietshaus“ von Johann Friedrich Geist und Klaus Kürvers. Auf über 1.500 Seiten wird darin die Entwicklung Berlins in den vergangenen 300 Jahren nachgezeichnet. Eine Pflichtquelle, wenn man zur Berliner Historie arbeitet.

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